Ein ebenfalls von mir selbst angefertigter Cover mit dem Bild von Elisabeth Brunner

Der schwarze Mönch Inhalt

Antonio hat schon von Kindheit an die besondere Gabe der Hellsichtigkeit. Doch im 12./13. Jh. wo er lebt und Menschen mit solchen Fähigkeiten noch auf dem Scheiterhaufen enden können, lernt er schon ganz früh in seinem Leben über seine Gaben zu schweigen. Er tritt dann aus eigenen Stücken in eine italienisches Kloster ein, weil er hofft dort Erlösung für seine Seele zu finden. Doch die Fähigkeiten den Charkater und die Gedanken seiner Mitmenschen sehr schnell zu erfassen, indem er ihre "Farben"  liest, bleibt ihm erhalten. Schliesslich wird Bruder Antonio von seinem Abt nach Dalmatien geschickt (Kroatien). Dort soll er in einem einsamen Kloster auf einer Insel, neu Erfahrungen sammeln. Doch schon bald merkt er, dass in diesem Kloster so manches nicht stimmt. Das verstärkt sich noch, als auf einmal ein schwarzgekleideter Mönch auf die Insel kommt und sich als neuen Abt vorstellt. Ab jenem Zeitpunkt hält das Grauen in das kleine Kloster Einzug. Mitten drinn Bruder Antonio, der zusammen mit dem jungen Novizen Martin versucht, den rätselhaften Ereignissen die sich anbahnen auf die Spur zu kommen.   

Der schwarze Mönch

20. August anno 1330

Helles Sonnenlicht lag auf dem Zentrum des Kreuzganges. Der Duft des blühenden Oleanders, erfüllte die Luft und die Heiligenstatuen, im kleinen Garten, schienen lächelnd die zweite Hälfte des Tages zu begrüssen. Dann... auf einmal ein Schatten, der urplötzlich das ganze Sonnenlicht in sich aufzusaugen schien! Er kroch die Pfeiler des Kreuzganges hinab... breitete sich immer mehr aus, gleich einer schwarzen Welle des Todes und der Verderbnis! Sie überflutete die Antlitze der Heiligen, die nun auf einmal bittere Tränen zu weinen schienen...

Entsetzt fuhr Bruder Antonio hoch! Er schüttelte den Kopf, um auch noch den Rest dieser schrecklichen Vision von sich abzuschütteln. Einen Augenblick lang wusste er nicht, ob es ein Traum gewesen war oder vielleicht gar eine Erinnerung?

Er dachte bei sich:  "Eigentlich hätte ich mir bewusst sein müssen, dass mich die Vergangenheit auf diese Weise heimsuchen würde, jetzt da ich meine Geschichte niederzuschreiben gedenke. Es war jedoch Bruder Martins letzter Wunsch, bevor er starb." Antonios Hand huschte über ein Blatt Papier, das vor ihm lag. Er schrieb schnell und sicher und mit jedem Wort, wurde seine Seele ein wenig leichter.

Martin und ich teilten dieselben schrecklichen Erinnerungen, welche sich noch heute, wie schwarze Schatten, über mein Bewusstsein breiten. Vielleicht gelingt es mir, diese Schatten, durch das Niederschreiben dieser Zeilen, immer mehr auszuleuchten. Eigentlich hätte ich gehofft, Bruder Martin überlebe mich, bin ich doch immerhin fünf Jahre älter als er. Aber er hat in seinem kurzen Leben schon viel mehr an Elend erlebt, als es einer jungen Seele zuträglich wäre. Martin war jedoch immer stark. Seine Stärke lag in seiner tiefen Hingabe und den unerschütterlichen Glauben daran, dass Gott unser Vater, alles stets zum Guten lenkt. Vielleicht... ja ich bin sogar überzeugt, nahm Christus ihn aus Gnade so früh in sein Reich auf. Martin hat es verdient, nach allem was er durchgemacht hat. Er hat jedoch Frieden geschlossen mit dem was geschah. Ob mir das auch eines Tages gelingen mag?"

 

Antonio hielt inne und strich sich über die Augen. Waren es Tränen die er spürte, oder einfach der Schweiss, der ihm wegen des heissen Wetters über Wangen und Stirn lief? Schon mit 13 war der heute 40- jährige Mönch ins Kloster eingetreten. Er stammte aus einer altkatholischen Familie, welche in dem kleinen italienischen Städtchen Ascoli lebte. Seine Eltern hiessen Rosa und Ernesto De Luca. Die beiden, war ebenfalls vor wenigen Jahren zu Gott heimgekehrt.

 

Meine Eltern sind für mich eher eine schmerzhaftes Kapitel. Ich sah sie nach meinem Eintritt ins Kloster, nur noch zweimal. Unsere Wege trennten sich früh, denn ich war von Geburt an irgendwie anders. Mein Anderssein bereitete den beiden oft Sorgen und Kummer. Sie befürchteten, ich könnte meine unsterbliche Seele verlieren. Das war mit ein Grund, warum ich ins Kloster eintrat. Da ich mich lange selbst vor meinem Anderssein fürchtete, glaubte ich, dort meinen Frieden zu finden. Heute jedoch habe ich gelernt, dass dieses Anderssein eine wundervolle Gabe Gottes ist. Nicht so damals

 

Schon beinahe ganz von Anfang an, sah ich mehr als andere Menschen. Bereits als Kleinkind, so erfuhr ich später, hatte ich meine unsichtbaren Freunde, mit denen ich auf meine Art kommunizierte. Später intensivierte sich das noch und ich begann damals ganz bewusst, die Farben wahrzunehmen, welche die Menschen, die mir begegneten umgaben. Es waren Farben, die niemand sonst sah. Dadurch erkannte ich ziemlich schnell das Wesen oder die Absicht meiner Nächsten.

In jener Zeit sprach ich noch von den Dingen, die ich jeweils sah, was meinen Eltern grosse Sorgen bereitete. Erstens konnten sie kaum eine Gefühlsregung vor mir verbergen und andererseits machten sie sich Sorgen um meine geistige Gesundheit. 

 

Die Natur war für mich stets belebt. Ich sah überall irgendwelche Wesen: Durch das Wasser flitzten ihre silbernen Leiber. In den Ästen der Bäume sassen sie, eins mit Licht und Schatten. Von Blume zu Blume schwebten sie, wunderschön und strahlend. Auf den Schwingen des Windes ritten sie, zart und engelsgleich und im Feuer tanzten sie munter ihren Reigen! Ziemlich schnell jedoch lernte ich über das was ich jeweils erblickte zu schweigen. Denn stets, wenn ich etwas von meine Erlebnissen erzählte, rang meine Mutter verzweifelt die Hände und sandte ein Stossgebet gen Himmel. Mein Vater verbot mir strikt, darüber auch nur ein weiteres Wort zu verlieren:

"Du wirst noch auf dem Scheiterhaufen landen, wenn du dir diese Flausen nicht aus dem Kopf schlägst, Junge!"

So glaubte ich mit der Zeit selbst, dass ich irgendwie falsch war und unterdrückte meine Fähigkeiten immer mehr.

In der Hoffnung endlich ganz von meiner unselig geltenden Gabe geheilt zu werden, entschloss ich mich dazu, in ein Franziskanerkloster einzutreten. Tatsächlich begann ich dann auch immer weniger übersinnliche Dinge wahrzunehmen, auch wenn meine Hellsicht nie ganz verschwand. Noch immer konnte ich die Farben meiner Mitmenschen sehen und damit auch ihr Wesen schnell ergründen. Ich redete jedoch nie mehr darüber, sondern schwieg einfach.

Mit der Zeit galt ich, als von der unseligen Gabe geheilt und wurde vollkommen ins Klosterleben integriert.

Ca. fünf Jahre verbrachte ich in der italienischen Abtei. Danach forderte man mich auf, eine Zeit lang nach Dalmatien zu gehen, um dort in einem anderen, abgelegenen Kloster, neue Erfahrungen zu sammeln und Wissen auszutauschen.

So erblickte ich das erste Mal das wundervolle Land Dalmatiens. Dies ist eine wunderbare Welt! Eine Welt beherrscht von den Farben Grün, Blau, Braun und Weiss. Die zahllosen kleineren und grösseren Inseln, bestehen vorwiegend aus weissem Kalkgestein, welches an deren Ufern besonders gut sichtbar wird. Es kam mir immer so vor, als würde der ausgewaschene Rand der Inseln, welcher im Sonnenlicht weiss wie Schnee leuchtet, einen Art Kranz um die eigentlichen Inseln bilden. Ein tiefklares Meer umspült die Inseln, wie wunderbare, grünweisse Juwelen! Nirgends auf der Welt sah ich je ein schöneres Meer! Sogleich zog mich dieses mystischen Land in seinen Bann, ein Bann der bis heute ungebrochen blieb. Darum lebe ich noch immer hier.

Die kleine Abtei in welche es mich als bald 18- jähriger verschlug, lag auf einer der kleineren Inseln Dalmatiens, welche man die Pakleni otoci nennt. Diese Name bedeutet "Hölleninseln", ein unseliger Namen für die Schönheit und Vollkommenheit dieser Inseln, die wie Diamanten im Azurblau eines glasklaren Meeres liegen. Im Laufe meines Lebens, habe ich jedoch immer mehr erkannt, dass es stets die Menschen selbst sind, welche einen Ort verderben oder erhellen können. Unser Inneres ist es, das diese Inseln zu den Hölleninseln macht. Diese Aussage kommt nicht von ungefähr, denn ich habe einst Schreckliches in jenem Kloster auf der Insel erlebt! ...

 

5. April anno 1308

Der junge Mönch Antonio De Luca stand an der Reling des hölzernen Dreimasters und schaute gedankenverloren hinunter ins Wasser, welches vom Kiel des Schiffes durchschnitten wurde. Die Gischt spritzte gegen den braunen Rumpf und liess das Holz fast schwarz erscheinen. Antonio, ein schlaksiger, hochgewachsener Junge mit braunem, etwas wirrem Haar und dunklen Augen beobachtete immer gern solche Kleinigkeiten. Er sah in allem eine Botschaft, eine Symbolik. Für ihn war die Welt ein einziges, grosses Wunder, mit vielen wunderbaren Geheimnissen. In allem wohnte Gott. Kein auch noch so unbedeutend scheinendes Ding, war ohne Aussage.

"Was will mir meine Beobachtung diesmal sagen?" fragte er sich und sogleich kam ihm ein Gedanke "Wie das Meerwasser die Oberfläche des Schiffes mit den Jahren verändert und Spuren darauf hinterlässt, so wird auch mein zukünftiges Leben, Spuren in meiner Seele hinterlassen, das spüre ich."

Ein seltsames Unbehagen erfüllte den jungen Mann auf einmal. Was hatte das bloss zu bedeuten? Schnell jedoch, schob er diese Gefühle wieder von sich und konzentrierte sich stattdessen auf den glitzernden Schaum, der die Wellen zur Rechten und Linken des Schiffes krönte.

Das Unbehagen wich einer leisen Wehmut. Früher als kleiner Junge, hatte er noch mehr in diesem Schaum gesehen: Dinge die niemand sonst sah. Man hatte ihn damals nicht verstanden, ihn deswegen gar gefürchtet. Dies führte dazu, dass es sich selbst schliesslich gegen diese Dinge aufzulehnen begonnen hatte. Er verschloss sich vor ihnen und verdrängte sie immer weiter, in eine der hintersten Kammern seines Herzens, die er dann mit mehreren Schlössern versiegelte. Seither war für ihn der glitzernde Meeresschaum einfach ein schöner Anblick, nicht mehr und nicht weniger...

Es gab für ihn in jener Zeit nur noch das Wissen um die Belebtheit der ganzen Natur, aber er sah all die unsichtbaren Lebewesen, die sie bevölkerten, nicht mehr. Auch wenn es ihn zeitweise schmerzte, glaubte er doch, das Richtige getan zu haben. In der Kirche galten solche Gaben nach wie vor als Ketzerei und noch viel zu oft gab es Menschen, die auf dem Scheiterhaufen landeten, weil sie solche, oder ähnliche Fähigkeiten besassen.

Es dauerte nicht mehr lange und in der Ferne tauchten die ersten Inseln auf. Das Schiff steuerte auf die Insel Hvar zu, die man auch "die Sonnige" nannte, weil dort die Sonne besonders lange schien. Antonio wusste, dass sich auf ihr ein Franziskanerkloster befand, doch sein endgültiges Ziel, lag auf einer der winzigen Nebeninseln, von Hvar. Den "Pakleni otoci".

Noch wusste Antonio nicht was dieser Name zu bedeuten hatte. Auf der Insel Hvar musste man ein kleineres Schiff nehmen, das dann die Nebeninseln ansteuerte. Es fuhr nur einmal pro Tag, und zwar in der 2. Stunde. Antonio hatte Glück, er konnte gleich nach seiner Ankunft in Hvar einsteigen. 

Die Fahrt kam dem jungen Mönch diesmal endlos vor. Es gab einfach zu viele Inseln hier. Dann endlich tauchte in der Ferne sein Ziel auf. Das Kloster lag erhöht auf einem Hügel. Das Inselchen auf dem es sich befand war so klein, dass man es zu Fuss in nur einer halben Stunde umrunden konnte. Die Mönche, die es bewohnten waren Selbstversorger. Nur selten fuhr einer der Brüder nach Hvar, um Handel zu treiben. Das graue, verwitterte Kloster war sehr alt. Schon seit Jahrzehnten hatte man nichts mehr an der Fassade verändert. Es besass einen eigenen, kleinen Kreuzgang, eine Bierbrauerei und einen Gemüsegarten. Ziegen und Hühner wurden als Nutztiere gehalten. 

Als sich das Schiff der kleinen Insel näherte, erfasste Antonio auf einmal ein mulmiges Gefühl. Irgendwas störte ihn an diesem Ort. Es war nicht der Ort an sich, sondern seine Atmosphäre. Er tat seine Gedanken jedoch als Unsicherheit dem Neuen gegenüber, das ihn erwartete, ab. Bestimmt würde es ihm in dieser Abgeschiedenheit gut gefallen.

Das Inselchen besass einen eigenen schmalen Steg, an dem das Schiff nun anlegte. Zwei Personen erwarteten ihn dort. Es handelte sich dabei um einen glatzköpfigen, älteren Mönch, mit einem mächtigen Bierbauch. Seine Augen waren klein und verschwanden beinahe in seinem runden, roten Gesicht. Seine Nase war seltsam verfärbt. Sofort kam Antonio der Gedanke, es hier mit einem Menschen zu tun zu haben, bei dem der Alkohol eine besonders wichtige Rolle spielte. So ganz anders war da der hübsche Junge, der neben dem älteren Mönch stand. Er war eher klein und zierlich und einiges jünger noch, als Antonio. Antonio schloss ihn sogleich ins Herz.

Das war das erste Mal, dass ich Martin in meinem Leben antraf. Er zählte damals 13 Jahre. Sofort fühlte ich mich mit ihm verbunden. Das verstärkte sich noch, als ich seine Ausstrahlung wahrnahm. Martin war umhüllt von lichten Farben in allen Pastelltönen. Goldene Sterne schienen dazwischen zu leuchten. Ich wusste, vor mir stand ein junger Mensch, noch gänzlich unverdorben. Rein in seinem Denken und Handeln. Ganz anders als der andere Mönch, der mit ihm gekommen war. Er stellte sich mir als Abt der Klosters vor. Die ihn umgebenden Farben, waren ein Gemisch aus braungrau, blassblau und getrübtem Gelb. Diese Farben waren alle mit rötlichen Flecken gesprenkelt. Das Ganze gefiel mir nicht, denn wie vermutet, deuteten diese rötlichen Flecken auf Trunksucht hin. Diese Farben hatte ich schon öfters bei Mönchen beobachtet, die gerne dem übermässigen Alkoholgenuss frönten. 


Antonio gab sich Mühe, sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Er stellte sich vor und schüttelte den beiden Brüdern, die ihn empfingen, die Hand. Der Abt, er nannte sich Mauritius, war kein so übler Kerl. Jedenfalls wenn der Alkoholpegel in seinem Blut hoch genug, aber nicht zu hoch war. Er meinte: "So du bist also der Mönch aus Italien, der hier neue Erfahrungen sammeln will? Wir freuen uns mit dir unser Wissen und unsere Erfahrungen zu teilen. Du wirst uns bestimmt auch einiges zu erzählen haben, obwohl... das Klosterleben ja nicht unbedingt sonderlich spektakulär ist."

Antonio entging der leise Sarkasmus in Mauritiu's Stimme nicht. Er kannte diesen auch von anderen Mönchen, die oft alles andere als glücklich mit ihrem Leben waren. Umso mehr beeindruckte ihn der junge Martin. Er schien in allem wahrhaftig und echt. Er selbst konnte das von sich nicht immer behaupten. Auch er haderte manchmal mit einigen Dingen, die das Klosterleben mit sich brachte. So fehlte ihm z.B. manchmal eine Familie und ein Mensch, den er lieben konnte. Er hatte sich jedoch ganz bewusst für das Klosterleben entschieden und wollte lernen, alles was damit einherging, zu lieben. Eines Tages würde er es schaffen... eines Tages...

Das Kloster auf der Insel war viel schlichter als jenes, aus dem Antonio stammte. Alles war baufällig, die Kapelle klein und dunkel. Die Zellen waren bescheiden eingerichtet und ziemlich zügig. Geschlafen wurde auf einem steinernen Bett, worauf nur ein alter Sack und eine dünne Decke lag. Doch das störte Antonio nicht sonderlich. Er hatte damit gerechnet, dass in dieser Abgeschiedenheit alles etwas einfacher gehalten war. Ausserdem war es ja auch die Einfachheit, welche der Heilige Franz von Assisi einst gelehrt hatte. In der Einfachheit kam man Gott näher, denn es gab weniger Dinge, die einem ablenkten. Antonio war sehr beeindruckt von seinem einstigen Ordensgründer Franziskus. Dieser stammte aus einer reichen Familie und gab all sein Hab und Gut auf, um ein wahrer Nachfolger Gottes zu werden.

Auch er hatte mit den verschiedensten Versuchungen zu kämpfen gehabt. Er sehnte sich sehr oft nach einer Frau und einem Kind, so wie Antonio. Doch er überwand diese Sehnsucht. Er war mit der Natur tief verbunden gewesen, so wie Antonio es war. Ein wunderschönes Gebet stammte von Franz von Assisi. Es war der Sonnengesang. Man nannte ihn deshalb auch den "Troubadour Gottes". Antonio eiferte ihm in jeder Hinsicht nach. Er wollte einst so werden wie er.  

Die Abtei auf der dalmatischen Insel beherbergte im Ganzen, nur acht Mönche. Mit Antonio waren es nun neun. Beim Abendbrot lernte er alle kennen. Er fühlte sich anfangs noch sehr unsicher. Er war seinen 18 Jahren auch der Zweitjüngste. Nur Martin war noch jünger. 

Wenn ich Martin so betrachtete, fragte ich mich, ob seine wunderschöne Ausstrahlung wohl einfach noch auf kindliche Unschuld zurück zu führen war. Doch je länger ich ihn kannte, umso mehr wurde mir klar, dass es sich diese Ausstrahlung auch noch in älteren Jahren bewahren würde. Ich kam mir in seiner Gegenwart klein und unbedeutend vor.

Als ich jedoch die andern Mönche des Klosters kennenlernte, wurde mir bewusst, dass diese wohl noch viel mehr mit dem Leben in diesem Kloster haderten, als ich es jemals getan hätte. Alle besassen irgendeine tiefgreifende Schwäche.

Da war z.B. Bruder Ignarius. Er war mit seinen 60 Jahren der älteste Bruder hier. Seine karminrote Ausstrahlung, mit braunblau und ockergelb gemischt, deutete auf Fanatismus und Streitsucht hin. Ignarius besass strenge Züge und musterte mich misstrauisch. Er besass keinen Bierbauch, wie einige der anderen, war eher dünn und wirkte irgendwie verdorrt. Sein Haar war grau und strähnig, die Augen wässrig blau, mit Tränensäcken darunter. Mit ihm würde ich es vermutlich nicht leicht haben. Der nächste Bruder, der mir sogleich ins Auge fiel, war Bruder Franz. Er war wohl der Dickste hier. Sein Gesicht war noch viel runder, als das des Abtes Mauritius. Er war gross und erinnerte mich unvermittelt an ein Fass mit Gliedmassen. Seine Ausstrahlung sah der des Abtes in vielem ähnlich, doch bei ihm war noch ein unangenehmes Dunkelrot zu sehen, was auf ungezügelte Leidenschaften hindeutete. Bei ihm bezog sich diese Leidenschaft wohl vor allem auf das Essen und Trinken. Franz war kein Mensch, der in normalem Masse genoss. Seine dunkelbraunen Augen verschwanden fast in seinem schwammigen Kopf, der nur noch durch einen dünnen Haarkranz geschmückt war. Alles was er tat, schien er exzessiv zu tun.

Ganz ähnlich waren auch die Farben von Bruder Konstantin. Er war schlank und ziemlich gross. Sein Gesicht wirkte hager. Er besass eine ausgeprägte Hakennase, allerdings einen vollen Mund. Seine Augen waren schwarz, sein erstaunlich dichtes Haar ebenfalls. Man hätte ihn als gutaussehend bezeichnen können, wäre da nicht diese dunkle Rot um seinen Körper gewesen, das mich irgendwie an Drachenblut erinnerte. Es war durchzogen von grauen Schwaden, welche zusätzliche Niedergedrücktheit anzeigten. Dieser Mann litt eindeutig unter einer angestauten Sexualität. Menschen, die ein normales Verhältnis zur Sexualität und Liebe besassen, verströmten sonst ein helles karminrot. Bei jenen, die die eigene sexuelle Energie richtig zu lenken verstanden, wurde ein helles schlüsselblumengelb, der höheren Intelligenz, daraus. Bei zusätzlicher, tiefer Religiosität wurde es zu einem tiefklaren Blau, oder bei selbstloser, reiner Liebe, durch wunderschönes Rosa bereichert. Bei Bruder Konstantin fehlten diese Farben allerdings gänzlich, was mir zu denken gab. 

Furcht flösste mir Bruder Michael zumindest am Anfang ein. Er war sehr gross und kräftig und hatte finstere Züge. Seine Farben bewegten sich zeitweise in den Schwarzbereich hinein, gemischt mit dem intensiven Rot der ungezügelten Wildheit und des Jähzorns. Dieser Mann unterdrückte wohl am meisten Wut. Seine dunklen Brauen waren buschig und seine fast schwarzen Augen, durchbohrten mich feindselig. Alle Brüder schienen ihm so gut als möglich aus dem Weg zu gehen. Sich mit ihm anzulegen konnte der Gesundheit sehr abträglich sein.

Ganz besonders unsympathisch war mir aber Bruder Thomas. In seiner Ausstrahlung fand sich besonders viel Gelb und Grün, was auf einen hohen Intellekt und Anpassungsfähigkeit hindeutete. Dieser waren jedoch durch graubraune Schwaden entstellt, was auf eine ausgeprägte Selbstsucht und ein intrigantes Wesen hindeutete. Thomas war jener der Bruderschaft, den man am meisten fürchten musste, denn hinter seiner properen Fassade lag ein verschlagenes Wesen, das gerne Zwietracht säte. Er war sehr freundlich zu mir, doch ich durchschaute ihn. 

Der letzte Mönch im Bunde, sein Name war Bruder Leopold, hatte eine sehr blasse Ausstrahlung. Seine Farben waren alle irgendwie verwässert: blasses Blau, blasses Rot, blasses Grün. Grau war vorherrschend. Das zeigte eine ausgeprägte Furcht vor allem. Leopolds Furcht, so erkannte ich mit der Zeit, bezog sich stets auf das Böse. Überall sah er den Teufel. Ausserdem hatte er keine eigene Meinung, wurde deshalb nicht selten zum Opfer der anderen Brüder. Mit ihm hatte ich in erster Linie Mitleid.

Auch für mich, der ich schon eine Menge Erfahrung auf diesem Gebiet hatte, war das was mir hier in diesem Kloster an angestauten Energien begegnete ungewöhnlich, gar unheimlich. Das war in der Abtei in der ich vorher gelebt hatte, gänzlich anders gewesen. Es gab dort eine Menge Mönche, welche bereits eine wahrlich hohe Schwingung erlangt hatten. Ihre Farben leuchteten, oder waren fast so fein und zart, wie jene des jungen Martin.

Natürlich gab es auch dort Brüder mit ähnlichen Problemen, wie auf der dalmatischen Insel, aber niemals im selben Ausmass wie hier! Es war ein Schock für mich und einmal mehr verfluchte ich meine Gabe, weil sie mir ein Wissen verlieh, dass mir bereits am ersten Tag, an diesem Ort, grossen Kummer bereitete. Würde es möglich sein, eine etwas andere Stimmung in diese winzige Abtei zu bringen...?

Schon bald ging Antonio nach seiner Ankunft, zum Klosteralltag über. Die meisten Brüder gaben sich Mühe, ihn in ihre Gemeinschaft einzugliedern. Doch er konnte zu keinem von ihnen einen richtige Beziehung aufbauen, ausser zum jungen Martin, der bald sein bester Freund wurde. Dennoch plagte Antonio bald das Heimweh nach seinem alten Orden. Dalmatien an sich gefiel ihm, doch er fühlte sich hier einfach unwohl. Man wusste nie genau, wann einer der Mönche die Kontrolle über sich verlor.

Besonders Konstantin starrte ihn, aber noch mehr Martin, oft so seltsam an. Eigenartige schmutzig gelbe Haken wurden dann von seiner Aura jeweils abgegeben, die nach ihnen zu greifen drohten. Als Antonio dies das erste Mal beobachtete, war er zutiefst erschrocken. Seither versuchte er Konstantin so gut als möglich aus dem Weg zu gehen. Auch Martin spürte, dass etwas mit Konstantin nicht stimmte, konnte es aber wohl zu wenig einordnen. Er war noch zu jung und zu unerfahren, um zu erkennen, dass Konstantins Interesse an ihm alles andere als gesunder Natur war. Antonio warf deshalb stets ein wachsames Auge auf Martin, wenn Konstantin ihren Weg kreuzte. Dieser Mann war ein Pulverfass, das jeden Moment hochgehen konnte. 

Ähnlich war es auch beim jähzornigen Michael, allerdings ging von ihm eine andere Gefahr aus. Man durfte ihn keinesfalls reizen, oder ihm irgendwie sonst zu nahe treten. Darum wählte Antonio seine Worte bei ihm immer besonders sorgfältig aus. Ausserdem versuchte er dem jähzornigen Hünen stets mit guten Gedanken entgegenzutreten. Tatsächlich schien dies langsam seine Wirkung zu zeigen. Mit der Zeit glaubte Antonio zu erkennen, dass Michaels Farben etwas durch die sanften Töne eines Sonnenaufgangs erhellt wurden, wenn sie miteinander sprachen. Michael schien ihn mit der Zeit immer besser zu mögen. Der junge Mönch stellte fest, dass Michael eigentlich einen sehr weichen Kern besass. Seine Ausstrahlung war auch nicht immer gleich düster wie an dem Tag, als er ihm das erste Mal begegnet war. Es kam stets auf seine augenblickliche Stimmung an. Wenn ihn niemand ärgerte und man ihn soweit in Ruhe liess, waren seine Farben gar nicht mal so unangenehm, wenn auch immer leicht getrübt, durch seinen Hang zum Jähzorn. Besonders wenn er jemanden auf den Tod nicht ausstehen konnte, konnte er sehr unangenehm werden. So war er z.B. auf Bruder Thomas gar nicht gut zu sprechen, was Antonio allerdings verstehen konnte. Thomas kam ihm selbst immer wie eine Schlage vor, die sich lange im Hintergrund versteckt hielt, um dann auf einmal unvermittelt zuzuschlagen. Schon oft hatte er dadurch Zwietracht unter den Mönchen gesät. Irgendwie aber, schaffte er es immer wieder, sich aus allem heraus zu winden, wenn man glaubte ihn seiner schlechten Taten überführen zu können. Er war einfach zu schlau. Der wilde Michael konnte das nicht ausstehen, denn meist war er dann derjenige, der bestraft oder getadelt wurde.

Der viel zu oft betrunken Mauritius, wurde seiner Aufgabe als Abt nicht wirklich gerecht.  Er überliess die Brüder mehr oder weniger sich selbst und kümmerte sich lieber um das Bier in seinem Keller als um die Probleme seiner Leute. Weil er so oft betrunken war, war er gar selbst ständig auf Hilfestellung, seitens der Brüder, angewiesen. Er besass keine wirklichen Führungsqualitäten, darum drohte hier auch alles zu verkommen. Antonio schmerzte das, denn er wusste, dass Mauritius einst anders gewesen sein musste. Er war kein schlechter Mensch, aber irgendwie schien er an seinem Leben gescheitert zu sein. Schon viel zu oft hatte Antonio den Abt sturzbetrunken am Ufer des Meeres, oder sonst wo aufgefunden und ihn zurück in seine Zelle gebracht. Mauritius hatte ihm einst in einem klarem Moment gestanden, dass er hier auf der Insel schon längst nicht mehr glücklich war.  

"Irgendwann werde ich von hier fortgehen und ein neues Leben beginnen."

Kein Wunder wirkte die Einstellung des Abtes nicht gerade motivierend auf die andern Mönche. Sie waren nicht mit dem Herz bei der Sache, dabei war das doch so wichtig in einer Klostergemeinschaft. 

Bruder Franz war eigentlich ganz sympathisch. Er scheute zwar harte Arbeit, aber ansonsten war er in Ordnung. Wenn er beim Essen sass, vergass er allerdings alles um sich herum. Oft seufzte er über das doch recht karge Mahl im Kloster. Seine Ausstrahlung veränderte sich auch stets, wenn es ums Essen und Trinken ging. Gelblichbraune Haken wurden dann von ihr abgegeben und griffen gierig nach den begehrten Dingen auf dem Tisch. Durch seine ungezügelten Leidenschaften wurde sein ganzes Wesen getrübt, das sonst eine ganz andere Ausstrahlung besass. Seine Farben waren ausserhalb der Essenszeiten erstaunlich klar. Besonders wenn er betete, umhüllte ihn ein Schein aus tiefklarem Blau, was auf ehrliche Hingabe und grosse Anbetung Gottes hinwies. Das war immer ein schöner Anblick und es liess Antonio etwas hoffen. Es gab sie also doch noch: Die verborgenen Edelsteine hinter der düsteren Fassade dieser Klostermauern. Die Ausstahlung des Ältesten, Ignarius blieb hingegen immer gleich. Dieser war eindeutig das Opfer seiner Verbitterung und seines Fanatismus geworden. Er schien nicht mehr imstande sich aufzuschwingen, auch nicht im Gebet. Ignarius erinnerte Antonio manchmal an eine leere Hülle, die noch beinahe unbeseelt, auf Erden weilte. Ignarius konnte man in keiner Weise erweichen, was Antonio sehr traurig stimmte. Es war wirklich schwierig.

Leopold der Farbloseste unter den Mönchen, litt manchmal sehr unter den anderen Mönchen, besonders aber unter Ignarius.

Als Antonio ihn einst darauf hinwies, dass auch er wertvoll sei und für sich selbst einstehen durfte, erwiderte Leopold jedoch: "Wenn ich das tue, dann wird vielleicht der Zorn von mir Besitz ergreifen und das ist der Weg auf die dunkle Seite. Als Christ muss ich duldsam sein." Auch wenn Antonios Gerechtigkeitssinn ihm sagte, dass etwa mehr Selbstwert für Leopold, von grösster Wichtigkeit gewesen wäre und er es beinahe nicht ertrug, ihn auf diese Weise leiden zu sehen, konnte er nicht umhin dessen grosse Frömmigkeit zu bewundern. Denn Leopold war wirklich fromm, wohl neben Martin der Frommste hier. Wenn er jeweils ins Gebet vertieft war, begannen seine blassen Farben, einem Regenbogen gleich, hell zu leuchten und zu funkeln. Darüber staunte Antonio immer sehr und er wünscht Leopold von Herzen, dass er einst begreifen würde, dass er sich diese Ausstrahlung auch im normale Alltag hätte bewahren können. Doch bis dahin war es wohl noch ein weiter Weg.

 

11. Mai anno 1308

Die Tage im dalmatischen Kloster zogen sich für mich nur schleppend dahin. Ich fühlte mich dort einfach nicht wirklich wohl. Man war so vielen Energien ausgesetzt, welche nur selten erbauend wirkten. Ich sehnte die täglichen Gebetsstunden richtiggehend herbei, denn dann waren die meisten Mönche etwas von ihren Problemen abgelenkt und es lag ein wohltuender, blauer Schein der Andacht, und das zarte Lila der Gottesliebe und Ergebung, in der Luft. In jenen Stunden glaubte ich auch die Gegenwart von Engelwesen zu spüren, die dieses Kloster sonst kaum mehr besuchten. Ich wusste, dass dort wo keine Andacht und Hingabe in das tägliche Leben, ja vor allem ins Klosterleben einfloss, auch die Engel Gottes seltener anwesend waren. Es gab einfach zu wenig Hinwendung zum Göttlichen, hier in dieser Abtei. Oft kam es mir so vor, als ob die Unzufriedenheit und Negativität wie ein Krebsgeschwür an diesem Kloster nagen würde. Es war schwer sich dieser Düsternis zu entziehen. Auch Martin spürte das. Doch er und ich konnten nicht ahnen, dass dies erst der Anfang war...

Schliesslich geschah etwas, das mir heute noch einen Schauder über den Rücken jagt. Etwas, dass unser ganzes Leben verändern und uns für immer prägen würde: Eines Tages, erschien der Abt Mauritius nicht zur morgendlichen Andacht. Wir alle vermuteten, dass er die Nacht hindurch wieder zu viel getrunken hatte und irgendwo sturzbetrunken auf der Insel herumlag. Ich erklärte mich nach der Andacht bereit, ihn zu suchen. Durch meine bisherigen Erfahrungen wusste ich, das Mauritius oft unten am Meer lag, da er sich im tiefsten Inneren danach sehnte, diese Insel zu verlassen. Als ich hinunter an den Steg kam, erschrak ich sehr. Das klostereigene Boot war verschwunden, von Mauritius keine Spur. Ich wurde nervös. Konnte es wirklich sein, dass der Abt sich tatsächlich entschlossen hatte, die Insel zu verlassen? Aber doch hoffentlich nicht in betrunkenem Zustand! Ich ging dem Ufer entlang und rief nach ihm, auch den Horizont suchte ich mit den Augen ab. Das Boot war nirgends zu entdecken. Als ich die Hälfte der Insel umrundet hatte, entdeckte ich aber etwas anderes!

Es war ein fremdes Boot, das offensichtlich auf mich zusteuerte. Ich hielt mir die Hand über die Augen, um in der grellen Mittagssonne besser sehen zu können. War es etwa ein Fischerboot, das sich in diese Gegend verirrt hatte? Nein, der Mann, der den Kahn steuerte, war nicht wie ein Fischer angezogen. Einen Augenblick lang glaubte ich, dunkle Wolken aufziehen zu sehen, als er sich mir mehr und mehr näherte. Es war nur ein kurzer Augenblick, wie eine Vision, doch dann schalt ich mich selbst einen Dummkopf. Es war ein glasklarer Tag heute, ohne jegliches Wölkchen.

Der Fremde hatte mich entdeckt und steuerte nun direkt auf mich zu. Eine schwarze Kutte wehte um seinen Körper. Die Kapuze hatte er hochgeschlagen, so dass man nur sein markantes Kinn und einen schmalen Mund sah, die Augen blieben verborgen. Das Boot schien sich wie von Geisterhand vorwärts zu bewegen. Der Fremde ruderte gar nicht, was mir erst später wirklich bewusst wurde. Er legte an einer geeigneten Stelle an und stieg an Land. Seine dunkle, lange Kutte schleifte über den hellen Kalkstein der Insel. Wieder glaubte ich für einen Moment lang, dass dieser sich unter seinen Schritten, schwärzlich verfärbten. Wohl ebenfalls nur eine Vision. Das Ganze kam mir sehr unheimlich vor. Der Schwarzgewandete kam ruhigen Schrittes auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. Noch immer sah ich seine Augen nicht, was mich beunruhigte. Mit einer dunklen Stimme sagte er zu mir: „Ich bin der neue Abt für dieses Kloster. Mauritius verliess die Insel letzte Nacht und bat darum, in seinem Amte abgelöst zu werden. Er war hier wohl nicht gerade glücklich, was?“

Seine Hand berührte nun die meine und dann... durchfuhr mich Kälte und Entsetzen wie ein Blitz aus heiterem Himmel! Einen Moment lang, erhaschte ich einen Blick in die Seele dieses Mannes. Sie war schwarz wie die Nacht! Ein gähnender Abgrund schien sich vor mir aufzutun und mich verschlingen zu wollen. Entsetzt wich ich zurück und keuchte auf. Der Fremde schien das zu bemerken, denn auf einmal schlug er seine Kapuze zurück und zwei dunkle, stechende Augen, mit eine seltsamen Schimmer darin, richteten sich auf mich. Mir kam es auf einmal vor, als ob jemand mir zuflüstern würde: „Du weißt also mehr als andere Menschen, ich hoffe, du kommst mir nicht in die Quere...“

Ich wusste beim besten Willen nicht, was genau damit anzufangen. Der Schwarze Mönch lächelte spöttisch und fragte: „Willst du mich denn nicht den anderen vorstellen?Ich musste mich erst wieder fassen und dann noch fiel es mir schwer, meinen Blick von dem Fremden zu wenden. Seine Ausstrahlung erfüllte mich mit Schrecken. Sie schien nur aus schwarzen Schatten, ohne jegliche Abstufungen, zu bestehen. Nichts war an diesem Mann, dass auf Gefühle irgendeiner Art hindeutete. Ja, man konnte die Schatten eigentlich nicht mal als Schatten bezeichnen, denn da wo Schatten war, war auch Licht. Hier aber war alles nur Leere, gähnende, schwarze Leere... Mein Entsetzen war so gross, dass ich keinen Ton herausbrachte. Ich machte nur eine Handbewegung, um dem Fremden die Richtung zum Kloster zu weisen. Was hatte es mit ihm bloss auf sich? Was wollte er hier? War Mauritius wirklich aus eigenen Stücken von dieser Insel weggegangen? Als ob der Schwarze Mönch meine Gedanken gelesen hätte meinte er: „Ich habe einen Brief von Mauritius dabei. Ihr könnt ihn dann alle lesen, wenn wir im Kloster sind. Wir werden unseren Spass haben, denke ich.“

Spass? Was wohl verstand dieser Fremde unter Spass? Mir war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dass ich es bald am eigenen Leibe erfahren würde...“

Nachdem der neue Abt auf die Insel gekommen war, änderte sich alles. Er gab sich sehr liberal und schien sich wenig um die Vorgaben des Ordens zu kümmern. Die Tafel war nun immer reichlich gedeckt. Es gab oft Wein zu den Mahlzeiten und der Schwarze Mönch, der übrigens seine Kutte nie gegen eine Braune austauschte, spornte die Brüder an, mehr Bier zu brauen, um dieses dann in Hvar zu verkaufen. Die Mönche gingen jetzt öfters in die Stadt, um Handel zu treiben. Antonio hätte es sehr begrüsst, wenn sie auch etwas mehr für die Mitmenschen hätten tun können, doch der neue Abt schien darauf reichlich wenig Wert zu legen. Er war viel mehr ein geschickter Geschäftsmann, der dafür sorgte, dass die Abtei mehr finanzielle Mittel zur Verfügung hatte als bisher.

Die Fassade des Klosters wurde renoviert, die Zellen der Mönche innert kürzester Zeit ausgebaut und mit neuen, weicheren Betten bestückt. Der Komfort stieg. Antonio beobachtete das mit gemischten Gefühlen. Einerseits war ihm klar, dass dieses komfortable Leben, sich eigentlich mit der ursprünglichen Lehre des Ordensgründers Franziskus widersprach, andererseits musste er sich eingestehen, dass er auch Gefallen an den Neuerungen fand. Dennoch wäre er froh gewesen, wenn nicht dieser seltsame, schwarze Mönch dabei die Hände im Spiel gehabt hätte. Man durfte ihm einfach nicht trauen.

Seine Ausstrahlung, die sich nie aufhellte, ausser mal durch das Gelb eines Geistesblitzes, gefiel Antonio gar nicht. Der 18- Jährige wusste, dass der Neuankömmling durch und durch ein schlechter Mensch war. Deshalb erschrak er sehr, als er merkte, dass dieser ihn doch irgendwie beeindruckte und ihn manchmal fast dazu brachte, seinem Charme und seinem zweifellos vorhandenem Charisma zu erliegen. Immer wieder tadelte er sich dafür, wusste er doch um das wahre Wesen dieses Mannes. All das war nur Fassade, eine geschickte Täuschung, welcher alle Brüder auf ihre eigene Art erlagen.

Der dicke Franz z.B. genoss die nun viel reicher gedeckte Tafel sichtlich und schlug sich immer gehörig den Bauch voll. Er gab sich nun vollkommen seiner Esssucht hin. Es erschien Antonio, als hätte der neue Abt es darauf angelegt, dass Franz dieser, seiner grössten Schwäche nachgab.

Thomas der Intrigant, heftete sich von Anfang an, an die Fersen des Schwarzgewandeten. Er wurde immer mehr zu dessen rechter Hand, las ihm alle Wünsche von den Augen ab.

Michael der Jähzornige, beobachtete das mit sichtlichem Argwohn. Schon weil der neue Abt Thomas so viel Aufmerksamkeit schenkte, bewirkte, dass er ihn nicht leiden konnte.

Ignarius bewegten gemischte Gefühle, was den Schwarzen Mönch betraf. Er genoss einerseits den steigenden Komfort im Kloster, war doch durch das wärmere, weichere Bett, seine Gicht besser geworden. Andererseits aber, widersprach das alles seiner strengen, dogmatischen Einstellung. So beobachtete er mit steigender Verachtung Bruder Franz, der kein Mass mehr zu kennen schien, was Essen und Trinken anbelangte.

Schliesslich missfiel es ihm so sehr, dass er den neuen Abt aufsuchte und sich deswegen beschwerte.

Der neue Abt sass kerzengerade hinter seinem Tisch, faltete fromm die Hände und hörte Ignarius interessiert zu.

Dieser meinte: „Vater, Bruder Franz gibt sich immer mehr der Todsünden der Völlerei hin! Seit die Tafel stets so reich gedeckt ist, kennt er keine Grenzen mehr. Ich finde das sehr beunruhigend.“

Der Schwarze Mönch meinte mitfühlend: „Tja, Bruder Ignarius, da habt ihr wohl recht. Auch mir ist das schon aufgefallen.“

„Wäre es nicht besser die Mahlzeiten wieder etwas einfacher zu gestalten Vater?“ „Willst du das denn?“

„Nun ja...,“ Ignarius senkte verlegen den Blick. „Ich geniesse das gute Essen schon, aber Franz.…“

„Wollt ihr denn, wegen einem einzigen, der das Mass nicht kennt, auf alles verzichten, an dem ihr Gefallen findet?“

Nein, eigentlich nicht. Aber können wir zulassen, dass Franz sich so selbstverständlich dieser Todsünde hingibt? Wollt ihr ihn nicht einmal zurechtweisen Vater?“ Ignarius’ Augen leuchteten einen Augenblick lang verschlagen auf. Er hatte Franz nie ausstehen können.

Endlich schien ihn jemand zu verstehen, denn der Abt meinte: „Ihr habt recht. Jemand sollte Franz tatsächlich einmal zurechtweisen. Wollt ihr das nicht gleich an meiner statt tun, Bruder Ignarius? Ihr habt schliesslich schon die meiste Lebenserfahrung, viel mehr noch als ich. Ihr würdet das bestimmt gut machen.“

„Ich... darf Franz zurechtweisen, Vater?“ Ignarius’ Herz pochte aufgeregt.

„Aber ja, ich habe da völliges Vertrauen in euch! Ich denke ihr habt ganz besondere Fähigkeiten, die bisher wohl zu wenig geschätzt wurden.“

Ignarius wurde rot vor Stolz. Endlich jemand, der seine Talente zu schätzen wusste und der ihn nicht ständig zurückhielt.

„Wollt ihr das also tun, Bruder Ignarius?“ fragte der Schwarzgewandete. „Es wird Zeit, dass jemand der Klostergemeinschaft wieder einmal die Bedeutung der Todsünden erklärt.“

Ignarius sprang auf und schwellte seine knochige Brust. „Ja Vater!“ rief er. „Das tu ich noch so gern. Danke!“ Dann verliess er das Zimmer des Abtes.

Als er verschwunden war, grinste der schwarze Mönch hämisch und murmelte: „ Ja, die liebe, liebe  Eitelkeit...wunderbar, ganz wunderbar...“

Wir alle staunten nicht schlecht als Ignarius eines Mittags Franz zurechtwies und ihn der sündhaften Völlerei bezichtigte. Ich wusste zwar, dass er immer sehr fanatisch und streng gewesen war, doch früher hätte er es nie gewagt, sich so zu benehmen. Der vorherige Abt hatte ihn immer zurechtgewiesen und ihm klargemacht, dass er Teil einer Gemeinschaft sei und keine Machtposition inne hätte. Mauritius hätte nie zugelassen, dass Bruder Franz so vor allen gedemütigt wurde. Der alte Abt mochte ihn, denn er fühlte sich mit ihm wohl in irgendeiner Weise verbunden, da er selbst eine grosse Schwäche für Alkohol besass. Ignarius hatte schon öfters versucht, Unfrieden zu stiften. Glaubte er doch, er habe als Ältester des Klosters, ein besonderes Vorrecht.

Die Arroganz, mit der er hier auf einmal auftrat, erstaunte mich.

Bruder Franz liess sich aber nicht die Butter vom Brot nehmen und antwortete Ignarius: „Ich glaube nicht, dass du in der Position bist, mir Vorschriften zu machen und mich gar einer Todsünde zu bezichtigen. Der Einzige, der überhaupt das Recht hätte, mich zurechtzuweisen ist der neue Abt Lucius. Doch ich sehe ihn nirgends. Wo ist er überhaupt?“

Thomas meinte mit seiner etwas heiseren Stimme: „Er sagte, er komme etwas später. Wir sollen schon mal ohne ihn beginnen.“ Das fand ich seltsam, denn normalerweise wurde erst gegessen, wenn die ganze Klostergemeinschaft versammelt war. Erst später erkannte ich, warum der Abt solange fern blieb... Jedenfalls steigerte sich der Streit am Tische noch, als Ignarius meinte, er werde uns mal wieder etwas über die sieben Todsünden erzählen. Er ereiferte sich richtig und hielt uns eine endlose Predigt über Dinge, die eigentlich jeder Katholik der „modernen“ Zeit wusste.

Je länger Ignarius redete, umso länger wurden die Gesichter am Tisch. Schliesslich meinte Franz schlagfertig: „Wenn wir schon von den Todsünden reden...Bruder...Wie war das noch mit der Eitelkeit? Vielleicht sollten wir beide zusammen beten, um die Vergebung Gottes zu erbitten. Was meinst du dazu?“ Er grinste ironisch und am Tisch erhob sich Gelächter. „Doch vorher...fügte Franz noch hinzu „muss ich noch etwas als Stärkung zu mir nehmen: Gib mir bitte mal den Braten rüber, Michael!“

Der Angesprochene grinste schadenfreudig in Ignarius' Richtung und reichte Franz den Braten, über den sich dieser sogleich hermachte. Auch wenn ich wusste, dass sich dieses Gespräch nicht unbedingt in eine positive Richtung bewegte, erlag ich doch selbst etwas der Schadenfreude...

Ich fand es gut, dass Franz Ignarius die Stirn bot, auch wenn ich wusste, dass der Älteste mit seiner Behauptung nicht ganz unrecht hatte. Franz gab sich wahrlich nur zu gerne der Völlerei hin.

Dennoch ging Ignarius hier eindeutig zu weit. Wie kam er bloss dazu?

Das ungute Gefühl liess mich nicht mehr los, dass der neue Abt womöglich dahinter steckte.

Wie angekündigt, kam erst später zur Tafel. Sofort wurde er von den Mönchen über das Vorgefallene unterrichtet. Er warf Ignarius einen etwas enttäuschten Blick zu und meinte salbungsvoll: „Aber Ignarius! Als ich dir sagte du sollest deine Mitbrüder mal wieder etwas über die Todsünden berichten, meinte ich doch nicht auf diese unfeine Weise. Ich dachte da eher an eine wohltuende Auffrischung der edlen Lehre unserer Kirche. Auch Franz hast du beleidigt, das ziemt sich nicht unter Ordensbrüdern.“

„Aber...,“ wollte Ignarius einwenden. „Ihr habt doch...“

Doch Lucius schnitt ihm das Wort ab. „Keine Widerworte, Ignarius! So etwas kann ich hier nicht dulden. Wir sind schliesslich eine Gemeinschaft.“

Ich nahm dem Abt keins seiner Worte ab. Denn ich sah seine Aura, die von graugrünen Schwaden der Verschlagenheit, durchzogen wurde. In seinen Augen lag ausserdem ein boshafter Glanz. Die Ausstrahlung von Ignarius wurde dagegen immer mehr durch die Feuerflammen des Zornes beherrscht. Als er dann noch die schadenfreudigen Gesichter der anderen sah, steigerte sich das noch. Er erhob sich steif und verliess den Raum abrupt. Der schwarze Mönch schaute ihm nach und schüttelte scheinbar mitleidig den Kopf. Ich fand das ganze Spiel ziemlich grausam. Das schien Lucius zu fühlen, denn auf einmal sah er mich wieder durchdringend an und erneut hörte ich diese Stimme in meinem Kopf: „Komm mir ja nicht in die Quere!“ Ich erschrak zutiefst über die Schärfe und den Hass darin und suchte den Blick von Martin. Der Junge schwieg, doch ich wusste, dass auch er sich so seine Gedanken machte...

Wieder verging ein Tag im Kloster auf der Insel und Antonio wurde immer unglücklicher. Seit der schwarze Mönch hierhergekommen war, schien die Stimmung unter den Mönchen noch schlechter geworden zu sein.

Ignarius war sehr wütend. Er schottete sich von allen noch mehr ab als bisher. Keiner bemühte sich um ihn. Nur Antonio und Martin versuchten etwas zu vermitteln, doch der Alte wandte sich nur mit finsterer Miene ab und ging davon. Antonio beobachtete mit Besorgnis, dass er über irgendeine Untat brütete. Er wusste nur nicht, worüber. 

Am Mittag darauf, hatte Ignarius wieder einmal Tafeldienst.

Er hatte, als die anderen kamen, bereits den Tisch gedeckt und Leopold brachte die Speisen. Ignarius liess es sich nicht nehmen, allen Brüdern persönlich das Bier zu reichen. Als er Franz seinen Bierhumpen mit dem schäumenden Inhalt reichte, glaubte Antonio zu sehen, wie ein schwarzer Funke der Boshaftigkeit durch die Aura des Ältesten zuckte. 

Gegen Ende des Mahles veränderte sich das Gesicht von Franz auf einmal. Es wurde ganz gelb und in Windeseile verliess er die Tafel. Draussen hörte man ihn husten und würgen. Er musste wohl erbrechen. Später kam noch schrecklicher Durchfall dazu. Die Mönche verstanden die Welt nicht mehr, denn Franz hatte keinerlei Anzeichen einer Krankheit gezeigt. Sie versuchten ihm zu helfen, doch das Erbrechen und der Durchfall wurden immer schlimmer.

Franz litt schrecklich, wurde immer schwächer und lag nur noch im Bett herum. Am Ende des dritten Tages, wurde Ignarius immer niedergeschlagener. Er schien sich ernsthafte Sorgen um Franz zu machen. Ein schrecklicher Verdacht begann in Antonio zu reifen, schliesslich sprach er den Alten an: „Die Symptome von Franz deuten auf eine Vergiftung hin, Ignarius. Ich weiss, diese Frage wird dich jetzt erschrecken, aber... hast du etwas damit zu tun?“

„Wie kommst du nur auf so etwas?“ rief der Angesprochene wütend aus. „Ich... habe nichts damit zu tun!“

„Du lügst Ignarius“, meinte Antonio ernst. „Sag mir, was du ihm gegeben hast, damit wir ihm helfen können!“

„Aber...“ stotterte der Älteste nun. „Ich wollte doch nur...“ Er schaute zu Boden und auf einmal sagte er leise: „Es war die Rinde des Faulbaums.“

„Faulbaum?!“ Dieser Ausruf kam von Lucius, der plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. „War die Rinde hoffentlich abgekocht oder ein Jahr lang gelagert?“

„Abgekocht nicht...“ flüsterte Ignarius. „Aber ich wollte ihm doch wegen seiner Fresssucht nur eine Lektion erteilen. Faulbaum wirkt abführend und... es sollte ihm auch gehörig schlecht werden.“

„Das hast du ja wohl erreicht“, meinte der Abt mit einer Entrüstung, die Antonio ihm nicht abnahm. „Wir müssen ihm helfen!“ sprach er eindringlich. „Er könnte sterben, wenn er zu viel Flüssigkeit und Salz verliert.“

„Natürlich müssen wir ihm helfen“, erwiderte der schwarze Mönch. „Ich habe da schon etwas. Kommt mit!“

Diese Zeilen zu schreiben, fällt mir nun sehr schwer. Damals schöpfte ich neue Hoffnung, auch wenn ich eigentlich hätte wissen müssen, dass dem schwarzen Mönch wenig an seinen Mitmenschen lag. Damals schien es wirklich, als wolle er helfen. Doch... als er Franz weitere Kräuter verabreichte, wurde dieser nur noch schwächer. Am fünften Tage... hauchte unser Bruder seinen Lebensatem aus. Es war schrecklich für uns alle. Besonders für Ignarius, denn nun hielt man ihn für einen Mörder. Sein Name wurde niemals reingewaschen. Doch ich weiss, wie es wirklich war und meine Seele trägt schwer daran...sehr schwer...“

Alle Mönche waren entsetzt über das, was geschehen war. Einen Mord hätte man Ignarius nun doch nicht zugetraut. Niemand aber, ausser Antonio und Martin glaubten, dass der neue Abt seine Finger im Spiel haben könnte. Vorher verdächtigten sie einander gegenseitig oder führten Ignarius' Handeln auf Wahnsinn zurück. 

Kurz nach dem schrecklichen Vorfall kam Martin zu Antonio und erzählte: „Ich habe gehört dass Lucius Ignarius einsperren und vor Gericht bringen will. Er hat ihn bereits im Keller eingeschlossen. Ich sah es zufällig. Beim Mittagessen werden wir darüber informiert werden. Glaubst du denn, dass Ignarius Franz tatsächlich umgebracht hat?“

„Wenn ich ganz ehrlich bin, nein...“ Antonio senkte die Stimme. „Ich glaube, der neue Abt war’s...“

„Wirklich?! Daran habe ich auch schon gedacht. Er gefällt mir gar nicht. Ich fühle mich in seiner Gegenwart überhaupt nicht wohl.“

„Das ist nicht verwunderlich.“ Antonio senkte seine Stimme noch mehr: „Ich erzähle dir nun etwas, das du unbedingt für dich behalten musst.“

„Was denn?“

„Ich weiss... dass Lucius ein sehr schlechter Mensch ist. Ich sehe es an seiner Ausstrahlung. Jeder Mensch hat seine ganz eigenen Ausstrahlung, seine eigenen Farben, je nach Charakter. Nur wenige Menschen sehen diese Farben und ich bin einer davon. Ich erzähle dir das, weil ich dir vertraue, denn es... ist gefährlich in der heutigen Zeit, solche Gaben zu haben. Man könnte auf dem Scheiterhaufen landen, du weißt ja..., darum darf niemand etwas davon wissen! Ich habe in Lucius' Seele gesehen und... sie war schwarz wie die Nacht. Du bist sehr feinfühlig, Martin, und darum spürst du, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Ich weiss nicht, was er genau will, aber ich möchte es herausfinden.“

„Ich kann dir nur beipflichten. Seit Lucius auf die Insel gekommen ist, hat sich die Stimmung unter den Mönchen noch verschlechtert. Thomas hat so viel Macht bekommen, Michael ist deswegen noch viel gereizter, Leopold zieht sich mehr und mehr in sich zurück und... Konstantin ist noch eigenartiger geworden als bisher. Er sieht mich immer so seltsam an, manchmal berührt er mich so komisch...“

Er berührt dich?“

„Nun ja...manchmal streicht er mir über die Beine oder hält mich so seltsam fest. Ich mag das nicht, Antonio. Was soll das bloss?“

Antonio kochte innerlich und war zugleich tief erschüttert. „Du musst Konstantin ganz klar sagen, wenn du etwas das er tut nicht magst oder komisch findest, Martin. Das ist sehr wichtig! Versprich mir, dass du dir das merken wirst.“

„Aber ich möchte nicht, dass er verletzt ist, Antonio.“

„Darüber musst du dir keine Gedanken machen! Konstantin darf dich nicht so berühren! Es ist nicht in Ordnung, klar?“

„Ja, ich werde es mir merken, nun muss ich aber wieder an die Arbeit. Ich habe sehr viel zu tun, seit Lucius da ist. Ich glaube... er mag mich nicht besonders.“

„Er mag dich nicht, weil du ein guter, unverdorbener Mensch bist, Martin. Der beste hier. Ich weiss es.“

„Hast du denn meine Farben schon gesehen, Antonio?“

„Ja. Du hast wunderschöne Farben. Gott liebt dich, denk immer daran, er liebt dich von ganzem Herzen!“

„Und ich liebe ihn, darum bin ich auch im Kloster. Nur… ich bin nicht immer sehr glücklich hier. Ist das anmassend Antonio?“

Der 18- Jährige bekam ungewollt feuchte Augen und meinte: „Nein, Martin, es ist nicht anmassend. Irgendwann gehen wir beide fort von hier. An einen Ort, der besser ist als dieser hier. Es gibt schönere Kloster. Doch ich glaube, wir haben hier noch eine Aufgabe zu erledigen.“

„Ich würde all den anderen hier gern helfen, Antonio, denn ich fühle, dass sie nicht so glücklich sind, wie sie es sein sollten.“

„Da hast du leider Recht“, antwortete der Angesprochene nachdenklich.

„Wir werden aber immer Freunde bleiben, nicht wahr?“

„Ja, das werden wir Martin, immer.“

„Darüber bin ich froh.“ Der 13- Jährige lachte glücklich und es war, als ginge dabei die Sonne auf.

 

5. Juni anno 1308

Damals war mir noch zu wenig klar, in welcher Gefahr Martin tatsächlich schwebte. Besonders Konstantin, entwickelte sich immer mehr zu einer der unheimlichsten Figuren in diesem Spiel. Ich nahm dies aber zuerst nur am Rande wahr, die Sache mit Ignarius, der des Mordes an Franz beschuldigt wurde, nahm mein Denken gerade zu sehr in Anspruch. Ich glaubte irgendwie Ignarius brauche jetzt vor allem meine Hilfe, doch vielleicht hätte ich auch sonst besser hinschauen sollen...

 

Konstantin warf sich unruhig auf seinem Lager hin und her. Eine furchtbare Unruhe plagte ihn in den letzten Tagen und Nächten. Immer öfters hatte er seltsame Träume, und wenn er erwachte, war sein Nachtgewand im Lendenbereich feucht. Er hatte das früher schon öfters erlebt, doch in den letzten Tagen war es immer schlimmer geworden. Im Wachzustand war ihm, als müsste er nächstens explodieren. Sein ganzes Denken war nur noch auf eine Sache gerichtet. Er dachte bei der Arbeit daran, beim Essen, ja gar beim Beten in der Kirche. Nichts konnte ihm Erleichterung verschaffen. Das was ihm hätte helfen können, war von der Kirche verboten. Schon seit langer Zeit kämpfte Konstantin gegen diese Bedürfnisse, die ihn immer wieder von neuem quälten, an.

Schon früh, war er ins Kloster eingetreten. Er war gerade mal so alt wie Martin gewesen, dieser wunderbare, junge Martin, der so eine besondere Ausstrahlung besass! Martins Wesen war das Gegenteil von Konstantins. Das faszinierte den mittlerweile 35- jährigen schon von Anbeginn.

Martin war immer so nett und hilfsbereit. Konstantin berührte ihn manchmal und der Junge liess es geschehen. Gefiel es ihm wohl auch? Martin kam Konstantin immer vor wie ein Engel, weit entrückt; Eine leuchtende Sonne, die er von Herzen ersehnte, zu erreichen. Auch Gott schien Konstantin so fern, so unerreichbar. Schon lange hatte er die Hoffnung aufgegeben, jemals in seine Nähe zu gelangen. Einst glaubte Konstantin, dies durch seinen Eintritt ins Kloster zu erreichen. Doch das Mönchsdasein half ihm auch nicht. Es half ihm nicht dabei, über seine schreckliche Kindheit hinwegzukommen.

Sein Vater hatte ihn oft misshandelt, ihm alles aus dem Leib geprügelt, was ihm irgendwie sündig vorkam. Welch ein scheinheiliger Heuchler! Einst sah Konstantin seine Mutter nackt. Er war seltsam gefesselt gewesen von diesem Anblick und hatte wohl etwas zu lange hingesehen. Der Vater erwischte ihn. Er prügelte ihn deswegen fast zu Tode und sperrte ihn dann nackt, drei Tage in den Keller, damit er geläutert werden sollte. Es folgten körperliche Züchtigungen, die sich weit von dem weg bewegten, was mit normaler Bestrafung zu tun hatte. Konstantin verlor damals seine ganze Würde, seine Kindheit, seine... Unschuld.  Das Kloster erschien ihm damals als Ausweg aus dem Schrecken seiner jungen Jahre.

Doch Gott strafte ihn noch heute für seine Sünden. Warum half er ihm nicht, diesen inneren Druck loszuwerden? Warum heilte er nicht sein Herz? Mittlerweile war Konstantin nicht mal mehr sicher, ob er überhaupt ein Herz besass. Der Einzige, der in ihm Gefühle der Liebe aufkeimen liess, war Martin. Er verkörperte alles, was Konstantin stets gefehlt hatte. Er wollte es besitzen, das Geheimnis ergründen, welches diesen Jungen umgab. Die letzte Zeit dachte er immer mehr an ihn. Des Nachts träumte er stets von ihm. Er sah ihn dann nackt vor sich, seinen weissen, reinen Körper, seine jugendliche Gestalt. Es quälte ihn mehr und mehr. Was nur konnte er tun?

Wieder träumte Konstantin diesen Traum heut Nacht und sein Nachtgewand verfärbte sich dunkel. Einfach so...

Neben seinem Bette stand eine schwarze Gestalt mit wehendem Mantel und rötlich schimmernden Augen. Konstantin aber bemerkte sie nicht. Er hörte auch nicht deren Flüstern, das ihm immer wieder zuraunte: „Lass ihr freien Lauf, lass ihr nur freien Lauf, dann wird es dir bald besser gehen. Denn die Wollust ist zuckersüss und wonnig. Geniesse sie, wo immer du kannst...Geniesse sie...“

Ich brachte Ignarius meist das Essen hinunter in den dunklen, feuchten Keller und fand, dass er schon viel zu lange dort sass. Immerhin war er auch nicht mehr der Jüngste und wurde täglich schwächer und in sich gekehrter. Seine Farben wurden matter und matter, so dass er mit der Zeit nur noch ein Schatten seiner selbst war. Auch wenn ich ihn nie sonderlich gemocht hatte, bemitleidete ich ihn nun und versuchte ihn zu trösten. Er hatte das mit Franz nicht gewollt, das wusste ich. Er mochte einen unsympathischen Charakter haben, aber er war kein Mörder.

Als ich ihm eines Tages wieder das Essen brachte, fragte ich ihn, wie es ihm gehe. Seine Stimme klang belegt, als er sprach: „Seit das geschehen ist, hat mein Leben seinen Sinn vollkommen verloren. Ich weiss nicht, ob ich mit dieser Last leben kann Antonio. Ich habe einen Mitbruder durch Unvernunft und Zorn getötet. Das... kann ich mir nie verzeihen und... ich glaube, auch Gott wird mir nicht verzeihen können. Ich bin auf ewig verdammt...“

„Aber du wolltest ihn ja nicht töten!“ beschwor ich ihn.

„Dennoch tat ich es. Ich habe die Wirkung des Faulbaums unterschätzt.“

 „Ich glaube nicht, dass er wirklich dadurch starb.“

 „Doch, denn ich habe die Rinde nicht abgekocht. Ja, ich wollte sogar, dass es ihm übel wird, doch so übel... es war doch nicht so viel. Es hätte in ein, zwei Tagen vorbei sein müssen...aber...“ Tränen stiegen ihm in die Augen.

„Es tut mir so schrecklich leid, Antonio, so schrecklich leid! Ich war kein guter Mönch. Ich habe nie diesen Frieden und die Einheit mit Gott gefunden, nach der ich mich einst so sehnte. Ich...habe versagt und nun richtet Gott über mich. Mein ganzes Leben habe ich damit zugebracht, gegen meine Unzufriedenheit anzukämpfen. Ich suchte bei den andern Menschen stets die Schuld. Doch nun... ist es meine eigene Schuld, die mich von innen aufzufressen droht. Ich wünschte, der Tod käme schnellstmöglich auch zu mir. Ich lebe in der Hoffnung, dass ich endlich von dieser Insel weggebracht und für meine Tat zur Rechenschaft gezogen werde. Vielleicht wird die Todesstrafe verhängt. Ich würde sie mit Dankbarkeit annehmen, denn mein Leben ist schon lange nichts mehr wert. Wie soll ich auch weiter leben mit dieser Last? Was kann ich denn noch machen? Ich bin zu alt, zu gebrechlich. Heute stehe ich vor den Trümmern meines Daseins.“ Er begann laut zu schluchzen: „Was habe ich nur aus meinem Leben gemacht? Wie viele Jahrzehnte empfand ich keine wirkliche Freude mehr? Ein Leben ohne Freude, ohne Liebe... Es ist nichts. Ich habe nichts und ich bin ein Nichts. Das wird sich nicht mehr ändern. Gott hat mich verlassen. Schon so lange...“

Instinktiv legte ich den Arm um Ignarius bebende Schultern. Seine Ausstrahlung hatte sich etwas verändert. Sie wurde, wenn auch immer noch eher matt in ihrer Färbung, auf einmal belebt durch blaue und gelbe Wellenlinien. Das deutete daraufhin, dass er wahre Einsicht zeigte und sich wieder mehr für das Göttliche zu öffnen begann. Ich sprach: „Ignarius, du darfst jetzt die Hoffnung nicht aufgeben! Gott hat dich niemals verlassen. Du selbst hast dich von ihm entfernt, dein Herz vor ihm verschlossen. Doch du kannst die Nähe zu ihm wiederfinden, denn du siehst deine Schwächen mehr und mehr ein. Einsicht ist der Weg, der zu Gott zurückführt. In deinem Innern ist ein Knoten, der wieder gelöst werden muss. Das kannst du nur, wenn du dich Ihm hingibst und dich selbst in einem ganz klaren Licht sehen lernst. Er wartete all die Jahre darauf, dass du das tust. Nun ist der Moment gekommen. Spürst du ihn schon? Spürst du, wie du wieder zu leben beginnst?“ Ignarius spürte es tatsächlich! Ich sah es in seiner Aura, die nun noch weiter erhellt wurde und dann... hatte ich für einen kurzen Augenblick eine Vision! Es war ein leuchtendes Licht, das vom Himmel herabkam und den dunklen Keller erhellte. Ja, ich... spüre es!“ rief Ignarius ungläubig. „Ich spüre es! Woher hast du das gewusst?“

Noch ganz erfüllt von diesem Licht erwiderte Antonio: „Weil wir Menschen uns da alle ähnlich sind. Manchmal ist es, als läge ein schwerer Stein auf unserer Seele. Wir glauben, nichts könne unser Leben erhellen. Trauer und Mutlosigkeit sind die Folge. Doch wenn wir dann diese Trauer, diese Mutlosigkeit, ja diese Verlorenheit erkennen, wenn wir etwas verändern wollen, dann kann sich auch etwas verändern. Wir haben alle eine Eigenverantwortung. Gott zu dienen ist ein ständiger Kampf, gegen uns selbst, gegen die Widrigkeiten des Lebens. Wenn wir begreifen, dass wir schwache Menschen sind, doch stets von Ihm geliebt werden, auch wenn mir einmal, zweimal, ja auch mehrmals versagen oder leiden müssen, dann wird er uns Seine Hilfe zuteilwerden lassen. Oft sehen wir nur einen einzigen Weg, doch es gibt so viele Wege zum Ziel. Vielleicht ist er gerade der Fehler von uns „Männern Gottes“, dass wir glauben, wir bräuchten keine Belehrungen und alles komme von selbst. Doch dem ist nicht so. Alle kämpfen und alle leiden. Nur nicht alle auf die gleiche Art. Du willst ein Leben mit mehr Liebe, mehr Glück, dann setze diesen Wunsch um! Überlege, was dich glücklich macht und wie die Liebe mehr Raum in deinem Leben bekommen könnte! Dann wirst du auch die Leere in deinem Inneren füllen können.“ „Aber vielleicht sterbe ich auch bald. Vielleicht werde ich zum Tode verurteilt und dann...habe ich keine Möglichkeit mehr, etwas zu verändern.“

„Die hast du immer noch. Du musst nur beginnen, gleich heute!“

„Aber wie?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Du hast deinen Weg, ich den Meinen.“

„Ich danke dir“, sprach der alte Mönch bewegt. 

Ich sah, dass Ignarius es mit seiner Dankbarkeit ernst meinte und ich versuchte mich zu entsinnen, was ich ihm eigentlich genau gesagt hatte, dass ihn so berührte. Doch alles war irgendwie verschwommen. Nur dieses helle Licht, das ich damals sah,... es leuchtet heute noch in meiner Seele und ich bin sehr glücklich, dass ich Ignarius durch Gottes Gnade helfen konnte, denn von da an veränderte er sich in seinem Wesen. Gott berührte ihn aufs Neue, und diesmal bleibend.

Eines Tages dann hörte ich, dass der Abt ihn weggebracht hatte. Man verurteilte Ignarius tatsächlich zum Tode. Bevor er aber hingerichtet wurde, schrieb er mit einem Stück Kohle an seine Kerkerwand: ICH VERSTEHE! Das erfuhr ich als ich den Kerker seiner letzten Tage einst besuchte. Es war kurz, bevor ich meine Geschichte niederzuschreiben begann. Der Kerkermeister erzählte mir, dass Ignarius gegen Ende seines Lebens wahrlich begonnen hatte, für Gott zu leben. Er habe stundenlang im Gebet und tiefer Kontemplation zugebracht. Was wohl hatte er verstanden? Ich kann es nur vermuten. Es erfüllt mich mit Freude und zugleich spüre ich tiefe Trauer darüber, dass Ignarius so wenig Zeit gehabt hat, seine neuen Erkenntnisse in die Welt zu tragen.

 

Leopold sass zitternd in seinem Bett, die Arme hatte er schützend um seinen Körper gelegt und er wiegte sich vor und zurück, um die schreckliche Furcht abzuschütteln, die sein Herz wie in einem Schraubstock zusammenzupressen drohte. Wie Konstantin, litt auch er seit geraumer Zeit unter schlechten Träumen. Allerdings ging es in seinen Träumen um etwas anderes: um den Leibhaftigen. Immer wieder hatte er denselben Alptraum: Er befand sich in einem Tempel ohne Türen und Fenster. Inmitten dieses Tempels stand eine fette Statue des Teufels, spärlich erleuchtet von Kerzenlicht. Nichts Sanftes hatte dieses Kerzenlicht an sich. Es war wie durch einen grauen Schleier getrübt. Der Altar vor der Statue war mit Blutspritzern befleckt. Kaltes Entsetzen erfüllte Leopold bei diesem Anblick. Er wusste, dass hier Menschenopfer dargebracht wurden. Er wollte diesen Ort verlassen, doch er war wie festgenagelt. Als er die Statue anstarrte, bewegte sich diese auf einmal, und sah ihn durchdringend an. Leopolds Entsetzen verwandelte sich in Panik und er wollte davonlaufen. Doch da war kein Ausgang- und die lebende Statue kam näher und näher...

Immer an diesem Punkt erwachte Leopold schweissgebadet, seine Eingeweide drehten sich beinahe um. Er hatte dann grosse Schwierigkeiten sich wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass dies alles nicht wirklich war, dass er ganz allein war, nirgends gab es eine Statue des Teufels. Dies fand alles nur in seiner Phantasie statt. Dennoch fragte er sich, warum er sich dieser Sache nicht auf mutigere Weise stellen konnte, da er immer so von Furcht gelähmt war.

Er war doch ein Mann Gottes und sein Glauben hätte ihm doch helfen müssen. Stattdessen verfolgte ihn dieses Entsetzen auch noch unter tags. Er begann immer mehr, schreckliche Dinge zu sehen: Da waren plötzlich schlangengleiche Lindwürmer, die sich um die Balken des Klosters wanden, haarige Gestalten, die die Mönche auf Schritt und Tritt verfolgten. Der Messwein schien sich auf einmal in dickflüssiges Blut zu verwandeln. Rote Spritzer erschienen auf den blütenweissen Tüchern des Altars und seltsame, schwarze Schwaden durchzogen wie Spinngewebe die Räume... Es war unfassbar schrecklich und langsam glaubte Leopold, den Verstand zu verlieren. Alle seine Schwächen standen auf einmal wie dunkle Dämonen vor ihm. All seine (vermeintlichen) Verfehlungen, suchten ihn nun heim.

Konstantin hatte wohl ein ähnliches Problem, denn die Schatten um seine Augen wurden immer dunkler. Leopold ging ihm beharrlich aus dem Weg, denn er hatte Angst davor, Konstantins Gegenwart würde seine unangenehmen Gefühle noch verstärken.

Er dachte an jenen Abend zurück, als er und die andern Mönche sich wieder einmal betrunken hatten, um ihren Alltag erträglicher erscheinen zu lassen. Damals war es einfach passiert. Leopold und Konstantin hatten beide einen intensiven Drang nach körperlicher Nähe verspürt. Sie zogen sich zurück und liessen ihrer Lust freien Lauf. Es war nicht viel Zärtlichkeit dabei, aber es entspannte. Als Leopold am nächsten Morgen wieder nüchtern war, hatte er dieses Erlebnis nicht etwa vergessen -im Gegenteil- es hatte sich in sein Inneres eingebrannt, wie ein feuriges Brandmahl. Sein Entsetzen darüber war gross, denn diese Art der Liebe wurde in der Kirche aufs Schärfste verurteilt. Leopold machte sich seither schreckliche Vorwürfe und liess es nie mehr so weit kommen. Konstantin, versuchte sich ihm immer wieder zu nähern, doch er wollte nichts mehr davon wissen. Er wollte es einfach nur vergessen, doch es gelang ihn nicht 

In letzter Zeit wurden seine Schuldgefühle gar noch verstärkt.

(Wichtige Anmerkung der Autorin: Auch wenn Leopold sich für den sexuellen Kontakt mir einem anderen Mann sehr schämt, spiegelt das auf keinen Fall meine Sichtweise über Homosexualität wieder! Es soll einfach zeigen wie schrecklich Schuldgefühle werden können, wenn man z.B. sehr religiös/moralisch geprägt ist, wie es bei Leopold der Fall ist. Diese Schulgefühle werden dann oft von destruktiven Mächten ausgenutzt)

Nicht selten nahm die Statue des Teufels auch das Gesicht Konstantins an. Diese Nacht war es gar sein eigenes gewesen! Es war schrecklich und der Mönch glaubte, nie mehr Erlösung finden zu können. War er wirklich schon verloren? Würde ihn der Teufel bald zu sich holen? War er womöglich schon in einer Vorhölle? Wie aber sah dann erst die wahre Hölle aus? Er wagte nicht einmal mehr zu beten, denn er glaubte, Gott habe sich ganz von ihm abgekehrt. So lag er einfach stundenlang wach und starrte hinauf zur Decke.

Als er schliesslich wieder in einen unruhigen Schlaf verfiel, sah er im Traum nochmals die Teufelsstatue. Sie trug nun... das Gesicht des neuen Abtes Lucius! Doch daran erinnerte sich Leopold am nächsten Tag nicht mehr und sein Martyrium setzte sich fort...

 

20. Juli anno 1308

Ich war sehr glücklich, dass Ignarius gegen Ende seines Lebens noch wahrlich zu Gott zurückkehren konnte. Da er nun fort war und ich mich wieder mehr meinen andern Mitbrüdern zuwandte, erkannte ich, dass noch lange nicht alles ausgestanden war. Ich machte mir langsam ernsthafte Sorgen um einige der Mönche. Sie sahen sehr schlecht aus, als würden sie nie genug Schlaf kriegen. Die Stimmung war angespannt. So geschah es öfters, dass beinahe eine Schlägerei zwischen ihnen entbrannte. Meist war dann der Abt gerade nicht in der Nähe, und so mussten wir allein dafür sorgen, dass das Ganze nicht eskalierte. Mit wachsender Besorgnis beobachtete ich auch Leopold, der sich immer mehr zurückzog. Manchmal fixierte er auf einmal einen Punkt und seine Augen weiteten sich vor Angst und Entsetzen. Oft zuckte er einfach unvermittelt zusammen, verschränkte fröstelnd die Arme und wiegte sich hin und her. Seine Aura bestand fast nur noch aus dem fahlen Grau, fürchterlicher Angst. 

Eines Tages beobachtete ich, dass, als Konstantin Leopold einst ungewollt berührte, dieser wie von der Tarantel gestochen auffuhr und seine Aura zu explodieren schien. Es sah so aus, als ob kleine Halbmonde, graue und rote in einer Wolke ausgeworfen würden. Etwas, das mich sehr erschreckte. Es war das erste Mal, dass ich Leopold zornig sah. Seine Augen funkelten und er schleuderte Konstantin die Worte: „Lass mich!“ entgegen. Dann erhob er sich und verliess fluchtartig den Hinterhof, wo wir gerade alle zusammen arbeiteten. Diese heftige Reaktion des sonst so stillen Leopold überraschte die Brüder und Konstantin verstand die Welt nicht mehr. Ich erkannte, dass hier etwas im Gange war, das ich nicht einordnen konnte. So ging ich Leopold hinterher, um ihn über sein schon lange sehr seltsames Verhalten zu befragen. Ich fand ihn schweigend unten am Meer auf einem Felsen sitzen. Er musste geweint haben. Ich setzte mich neben ihn und wir schwiegen uns eine Weile lang an.

Schliesslich begann er leise zu sprechen: „Ich komme oft hierher, der Blick auf das weite Meer beruhigt mich. Es vermittelt mir ein Gefühl der Freiheit, des Friedens. Warum können wir diesen Frieden, diese Freiheit nicht in unserem Inneren finden?“ „Kannst du sie nicht finden?“ fragte ich, obwohl ich die Antwort schon kannte. Leopold lachte bitter auf. „Nein! Du etwa?“

„Manchmal ja, manchmal nein. So ist wohl das Leben.“

„Ich wäre froh, wenn ich dasselbe sagen könnte Antonio, aber seit einiger Zeit gibt es keinen Frieden und keine Freiheit mehr für mich. Ich kann nicht mehr beten. Früher konnte ich das noch besser und es half mir über so manches hinweg. Nun aber...“ „Seit wann geht es dir so?“ fragte ich, obwohl ich auch hier die Antwort bereits glaubte zu wissen. „Seit etwa zwei Monaten.“

„Seit der neue Abt da ist?“ wagte ich zu fragen. Leopold überlegte, dann erwiderte er: „Ja das könnte etwa hinkommen. Aber warum?“

„Ach, ich dachte nur so. Er ist etwas seltsam dieser schwarze Mönch.“

„Findest du? Ich fand ihn eigentlich immer ganz nett. Er hat einige gute Veränderungen hierhergebracht.“

„Zweifellos, das hat er...“ erwiderte ich vorsichtig. Dann wechselte ich das Thema. „Was war eigentlich vorher mit dir los? Du warst ja richtig ausser dir.“

„Konstantin soll mich nicht immer anfassen. Ich kann das nicht ausstehen.“

 „Ich glaube nicht, dass er es absichtlich tat.“

 „Das weiss man bei ihm nie so richtig. Er soll mich einfach in Ruhe lassen

Du warst früher nicht gar so allergisch auf ihn. Du scheinst die letzte Zeit ziemlich unruhig und gereizt. Willst du darüber reden?“

Leopold dachte einen Moment lang nach, dann erwiderte er: „Du hast recht. Es geht mir in letzter Zeit wirklich nicht gut. Ich schlafe sehr schlecht und habe immer diese Träume.“

„Was für Träume?“

„Ich weiss nicht, ob ich darüber jetzt wirklich reden will.“

 „Du musst natürlich auch nicht. Ich mache mir nur etwas Sorgen um dich.“

Wieder schwiegen wir beide eine Weile. Dann, auf einmal, meinte Leopold: „Es sind Träume… vom Bösen...“

Er erzählte mit den Traum von dem Tempel und ich verstand, wie sehr er darunter leiden musste. „Wenn es nur diese Träume wären, ginge es ja noch, aber... ich sehe auch sonst seltsame Dinge, auch im Wachzustand.“

Leopold schilderte mir seine Horrorvisionen und meine Bestürzung wuchs. Was hatte das zu bedeuten? „Ich glaube langsam durchzudrehen, Antonio“, flüsterte mein Gegenüber. „Bin ich vielleicht von einem bösen Geist besessen?“

In mir wuchs erneut ein schlimmer Verdacht und ich erwiderte: „Das glaube ich nicht. Irgendwas anderes ist hier im Gange.“

„Ich dürfte eigentlich gar nicht darüber reden“, meinte Leopold. „Wenn das die Inquisitoren mitbekämen... Du darfst niemandem etwas davon sagen Antonio! Schwöre es mir!“

„Nur keine Angst. Ich schweige wie ein Grab.“

„Du musst schwören!“

„Ich schwöre es. Nur um etwas bitte ich dich: wenn wir jetzt zurück zum Kloster gehen, sag mir, wenn du etwas siehst und was du siehst. Vielleicht sehe ich es dann auch. Ich kenne mich da etwas aus.“

„Siehst du auch Dinge?“

„Manchmal, aber lassen wir das. Es ist wichtig, dass wir dieser Sache auf den Grund gehen. Du sollst wieder glücklich werden.“

„Ich weiss nicht, ob ich jemals glücklich war, aber sicher glücklicher, als ich es heute bin wo ich all diese Schreckensbilder sehe... Könntest du sie auch sehen Antonio, wüsste ich wenigstens, dass ich nicht besessen bin.“

„Wir werden sehen. Irgendwie kriegen wir das schon auf die Reihe.“

 Leopolds Aura wurde etwas vom Licht der Hoffnung erhellt und er brachte sogar ein Lächeln zustande. Dieses aber erstarb sogleich wieder, als wir uns den Mauern des Klosters näherten. „Dort oben bei den Balken...“ flüsterte er angstvoll. „Lindwürmer! Siehst du sie?“ Ich blickte in die angegebene Richtung und versuchte mich zu konzentrieren. Anfangs sah ich nichts. Doch dann war mir, als ob eine Tür in meinem Inneren aufgehen und es mir wie Schuppen von den Augen fallen würde. Da waren tatsächlich schlangengleiche Wesen: Weisslich graue, schmierige Kreaturen mit grässlichen Köpfen. Sie wanden sich um die Balken des Daches.

„Oh mein Gott!“ entfuhr es mir. „Du hast recht! Da sind so etwas wie Lindwürmer!“

„Du siehst sie?“

„Ja, ich sehe sie. Nun sehe ich sie!“

 Leopolds Augen leuchteten auf. „Dann...bin ich also doch nicht verrückt?“

„Nein. Was du siehst ist wirklich da. Irgendwie muss sich bei dir der Schleier zwischen dem Diesseits und Jenseits gelüftet haben. Vermutlich hat das mit deinen Träumen und deiner Furcht zu tun.“

„Aber woher kommen diese Kreaturen?“

 „Ich weiss es auch nicht so genau, aber etwas geht da nicht mit rechten Dingen zu. Vielleicht kommen sie aus unserem Inneren, vielleicht auch von jemand anderem...“ „Was meinst du damit? Redest du womöglich wieder von Lucius?“

„Ich will nichts behaupten, aber wir finden das noch raus. Du musst mir helfen Leopold! Wenn du das nächste Mal den Abt siehst, betrachte ihn ganz genau. Vielleicht erkennst du etwas, was uns Klarheit verschafft.“

„Du meinst, dass ich dir helfen kann?“ fragte Leopold überglücklich und das Rotorange des Stolzes, flammte in seiner Aura auf. Er wirkte auf einmal viel gesünder und frischer.

Das freute mich und ich erwiderte: „Ja, wir müssen jetzt zusammenhalten, das ist im Augenblick sehr wichtig, wichtiger als alles andere.“

„Genau, wir halten zusammen, dann schaffen wir das!“

„Allerdings. Also bis später.“

 „Bis später!“ sprach Leopold enthusiastisch und entfernte sich mit beschwingtem Schritt. „Noch ein Verbündeter,“ dachte ich bei mir und war sehr froh darüber...

 

Das Ereignis mit Leopold gab auch mir wieder Auftrieb, er war sehr feinfühlig, sogar etwas hellsichtig, wie ich und er und ich würden den Schwarzen Mönch irgendwann überführen, dessen war ich mir sicher. Er würden auch noch andere Verbündete dazukommen, vielleicht von einer noch gänzlich unerwarteten Seite...

 

25. Juli anno 1308

Bruder Michael ging es ebenfalls gar nicht gut. Er hatte in letzter Zeit grosse Mühe, sich noch richtig auf das Gebet und die Arbeit zu konzentrieren. Alles ärgerte ihn und es brauchte nur sehr wenig, bis sein Temperament mit ihm durchging. Er war ja schon immer schnell gereizt gewesen, doch seit etwa zwei Monaten, hatte sich das noch verstärkt. Michael war mit sich selbst und der Welt unzufrieden. Alles kam ihm sinnlos vor. Er hatte auch keine wirklichen Freunde hier auf der Insel. Eigentlich mochte er auch niemanden, ausser vielleicht noch Antonio und Martin.

Ihre jugendliche Frische tat seinem gramgebeugten Herzen gut. Die anderen Brüder waren alle irgendwie daneben.

Konstantin war sowieso ein komischer Mensch mit, so erschien es Michael, seltsamen Neigungen.

Leopold war ein Waschlappen ohne Charakter.

Franz, den er noch am meisten gemocht hatte, war von diesem Irren Ignarius ermordet worden, der neue Abt war auch ein zwielichtiger Typ und Thomas... von ihm ganz zu schweigen! Michael hasste diesen schleimigen, intriganten Kerl bis aufs Blut. Täglich fragte er sich, was er eigentlich noch hier in diesem Kloster verloren hatte. Er war wohl doch nicht auf Dauer für dieses Leben gemacht. Er dachte darüber nach, wie er einst hierhergekommen war. Alles war damals noch anders gewesen. Er war überzeugt gewesen, das Richtige zu tun. Ausserdem kam er so von seinem Vater weg, der ihn oft schlug. Er musste seinen Jähzorn wohl von ihm geerbt haben, deswegen machte er ihm oft schwere Vorwürfe.

Dennoch, früher war Michael eigentlich ein eher stiller Junge gewesen. Er frass alles in sich hinein, aus Angst vor den Reaktionen seines Vaters. Auch seiner Mutter zuliebe wollte er diesen nicht zusätzlich reizen, denn sie litt besonders unter dessen Zornesausbrüchen.

Ja, seine Mutter! Michael hatte sie von Herzen geliebt. Sie war eine sehr fromme und gütige Frau gewesene. Leider verstarb sie viel zu früh. Michael hatte nur zwei Menschen in seinem Leben innig geliebt: Seine Mutter und ein Mädchen mit Namen Theresa. Er wollte sie einst heiraten, doch Theresa stammte aus einer gutsituierten Adelsfamilie, die in Michaels Heimatstadt sehr angesehen war.

Theresa liebte ihn auch, doch er war der Sohn einer armen Bauernfamilie und so kamen sie nie zusammen. Theresa wurde vielmehr mit einem andern Edelmann verheiratet und Michael musste sie vergessen. So richtig gelang ihm das aber nie wirklich. Er dachte sehr oft an Theresa und er fand im Glauben an Gott schliesslich seinen grössten Halt. Eines Tages beschloss er, auch auf Drängen seiner damals an einer Lungenentzündung erkrankten Mutter, in den Franziskanerorden einzutreten. Von Theresa hörte er nichts mehr und so blieb ihm nichts anderes, als die Erinnerungen an sie.

Anfangs fühlte Michael sich noch wohl im Kloster. Er war in einer Abtei auf dem Festland. Mit der Zeit aber wurde er immer unzufriedener und aufmüpfiger. Der Abt wechselte damals und er hatte Mühe, dessen Autorität anzuerkennen. Das brachte ihm eine Menge Ärger ein. Man legte ihm schliesslich nahe, die Abtei zu verlassen und in jene auf der Insel zu ziehen. Wenn er so die Geschichten der anderen hier anwesenden Mönche hörte, erschien es ihm, als würden nur jene auf diese Insel entsandt, die irgendein Problem hatten. Er lachte bitter auf. Ein sogenannter klösterlicher Abfallhaufen...

Eigentlich erstaunte es ihn deshalb, dass Menschen wie Antonio und Martin hierher geschickt worden waren. Die beiden machten doch eigentlich einen ganz guten Eindruck. Vermutlich waren sie die einzigen, die noch einigermassen bei klarem Verstand waren. Wahrscheinlich wussten die meisten Leute der Aussenwelt gar nichts über die Zustände hier. Vielleicht bildete er sich das mit dem Abfallhaufen auch nur ein, sah er doch heute mit seinen 42 Jahren in allem irgendetwas Schlechtes.

Sicher waren alle Mönche hier einfach durch irgendeinen Zufall an diesem Ort gelandet, versuchte er sich selbst zu beschwichtigen, doch es gelang ihm nicht wirklich. Alles schien seit der Ankunft des neuen Abtes, noch schlimmer geworden zu sein. Michael konnte sich selbst schon gar nicht mehr ausstehen. Er war Gott so fern, wie noch nie in seinem Leben.

Noch ganz in seinen düsteren Gedanken versunken, merkte er gar nicht, dass sich ihm Lucius näherte. Erst als er dessen kalte Hand auf seiner Schulter fühlte, fuhr er erschrocken herum. Der schwarze Mönch lächelte wohlwollend und meinte: „Irgendwie habe ich den Eindruck, du brauchst mal etwas Abwechslung in deinem Leben, Michael.“

Der Angesprochene fragte sich erstaunt, wie Lucius das wissen konnte und fragte etwas distanziert: „Sieht man mir das so gut an?“

„Ich würde sagen schon. Du sitzt hier ganz allein und scheinst die ganze Zeit über etwas zu brüten. Wie wäre es, wenn du und ich mal zusammen nach Hvar fahren würden? Es gäbe noch einige Geschäfte dort zu tätigen...“ „Ihr wollt mich dabeihaben, Vater?“ meinte er etwas ungläubig.

„Ja. Es würde mich freuen, “ erwiderte Lucius charmant.

„Was hältst du davon?“

„Nun ja...ich weiss nicht so recht...“

Der Abt lächelte vielsagend und meinte: „Ich weiss, dass du mich nicht besonders magst, Bruder Michael, gerade darum will ich dich dabeihaben. Ich möchte, dass wir uns besser kennenlernen und vielleicht dadurch das eine oder andere Vorurteil aus der Welt schaffen können.“

Diese Offenheit beeindruckte Michael irgendwie und er fühlte sich auch etwas geschmeichelt, dass sich der Abt so um ihn zu bemühen schien.

„Du kannst es dir ja nochmals überlegen“, sprach Lucius verständnisvoll und wandte sich zum Gehen.

„Wartet!“ rief Michael. „Ich komme mit!“

„Sehr schön. Dann pack deine Sachen, Bruder! Morgen in der Früh geht’s los.“

„Ich werde da sein. „Sehr gut“, murmelte der schwarze Mönch leise und wieder umspielte ein verstohlenes Grinsen seinen Mund, welches Michael allerdings nicht mehr zu sehen bekam, weil sich Lucius schon abgewandt hatte.

 

Als ich erfuhr, dass Michael mit dem Abt für zwei Tage nach Hvar fahren würde, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Mir war bekannt, dass Michael Lucius eigentlich nicht ausstehen konnte und sich auch dementsprechend benommen hatte. Er eckte mit seiner Art oft an, besonders bei Autoritätspersonen. Was versprach sich der Abt also davon, ihn mitzunehmen? Bisher hatte ich immer beobachtet, dass der schwarze Mönch nichts ohne einen Beweggrund tat. Irgendwas führte er im Schilde. Aber was? Nun, ich würde es wohl bald erfahren. Jedenfalls schien sich mein Mitbruder über die willkommene Abwechslung zu freuen, denn er hatte eine blendende Laune, als er und der Abt das Boot, gefüllt mit Bier und anderen Handelswaren, bestiegen.

„Vielleicht bleibe ich gleich auf Hvar!“ rief er mir noch vergnügt zu und ich erwiderte: „Ich hoffe nicht, denn ich würde dich vermissen.“

Das meinte ich ernst. Ich hatte Michael trotz seines oft unberechenbaren Wesens, schätzen gelernt. Ich hatte mit ihm auch nie wirkliche Probleme gehabt und schätzte es, dass man bei ihm immer wusste, woran man war. Schönfärberei war nicht seine Art. Natürlich war es für einige nicht leicht, mit ihm klarzukommen und ich hoffte, dass er eines Tages zur Erkenntnis gelangte, dass nicht alle Probleme mit Gewalt angegangen werden mussten. Er hätte es sicher leichter gehabt, ebenso wie seine Mitmenschen. Vielleicht bewirkte ja diese Reise etwas.

Irgendwie sagte mir ein Gefühl, dass sie nicht ohne Folgen bleiben würde. Doch noch konnte ich nicht wissen, wie sich das zeigte. So ging ich nachdenklich ins Kloster zurück und betete, dass Lucius Michael nicht irgendwelchen Schaden zufügen würde.

 

Michael freute sich wirklich auf die Reise, mehr als er es jemals für möglich gehalten hätte. Endlich würde er wieder einmal etwas Zivilisation sehen. Der Insel-Koller hatte ihn schon längst fest im Griff. Nun gut, Hvar war auch eine Insel, aber nicht gar so einsam.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er die Geschäftigkeit dieses Ortes kennen lernte. Hvar war die grösste Insel im Umkreis und sie hatte zudem eine Verbindung zum Festland. Überall sah man Händler, die ihre Waren feilboten. Es gab einige Gaststätten und auch ein Lazarett. Michael kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und merkte, dass er wirklich Vieles, was es hier gab, vermisst hatte. In seinem Inneren begann ein Kampf zu toben. Würde er nach dem Besuch in der Zivilisation noch fähig sein, wieder in das einsame Kloster zurückzukehren? Was für Folgen würde es haben, wenn er sein Mönchsdasein aufgab? Konnte er all dem entsagen, was er Gott einst gelobt hatte? Er fürchtete die Folgen eines solchen Schrittes. Man würde ihn ächten und verdammen. Würde auch Gott ihn für ewig verdammen? Immerhin hiess es ja, man dürfe seinen Eid auf keinen Fall brechen. Doch war es nicht ehrlicher sich einzugestehen, dass man eigentlich nicht für das Leben als Mönch geschaffen war? Konnte er weiter eine Lüge leben, obwohl er doch tief im Inneren wusste, dass er gar nicht als Gottesmann taugte? Er war viel zu jähzornig, viel zu impulsiv und es wurde eher schlimmer, als besser.

Das wurde ihm am Abend darauf erneut mit aller Deutlichkeit bewusst.  Sie stiegen in einem ziemlich heruntergekommenen Wirtshaus ab und als es eindunkelte, lud Lucius Michael ein, mit ihm noch einige Bierchen trinken zu gehen. Eigentlich war solcherlei Beschäftigung nicht im Sinne des Ordens, dem sie entstammten, doch Michal wischte seine Bedenken weg.

Es sassen einige, teilweise schon angetrunkene Gäste im Schankraum und sie musterten die beiden Mönche mit vielsagenden Blicken. Einer von ihnen begann schliesslich zu pöbeln. Er war ganz ähnlich gebaut wie Michael, allerdings hatte er schütteres, rotblondes Haar und einen ungepflegten Dreitagebart. Seine Augen waren wässrig und von heller Farbe. Michael mochte ihn von Anbeginn nicht.

„Soso“, spottete der Fremde. „Wir bekommen hier also hohen Besuch von zwei Gottesmännern. Solltet ihr nicht beten, anstatt hier zu sitzen und euch zu besaufen?“ Michael versuchte erst, den Kerl zu ignorieren, doch lange gelang ihm das nicht. Lucius sass mit ausdrucksloser Miene da, man wusste nicht, was er dachte.

Michaels Blut aber geriet mehr und mehr in Wallung und er erwiderte: „Und du, solltest du nicht schon längst deinen Rausch ausschlafen, anstatt unbescholtene Bürger zu belästigen?“

„Unbescholtene Bürger?! Das wage ich zu bezweifeln!“ rief der Fremde aus. „Die mit den Kutten sind die Schlimmsten. Was sonst würdet ihr hier wollen, als euch mit irgendwelchen Freudenmädchen zu vergnügen, zu saufen und andern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Oh ja, ich kenne euch, ich kenne euch nur zu gut! Auch die Templer haben sich trotz ihrer properen Fassade, als die schlimmsten Ketzer erwiesen. Sie haben das Kreuz entehrt, mit Ungläubigen gemeinsame Sache gemacht und sich der gleichgeschlechtlichen Liebe hingegeben.“

Michael wusste, wovon der fremde Mann sprach. Es war der Orden der Tempelritter, die einst aus Frankreich kommend, nach Jerusalem gezogen waren, um die Stadt von den Arabern zurück zu erobern. Sie hatten viele Anhänger gefunden, doch vor ungefähr einem Jahr, waren sie alle wegen genannter Vergehen von der Kirche verhaftet worden.

Der Prozess lief immer noch, doch Michael war die Sache suspekt. Er glaubte nicht wirklich an die Schuld der Templer, jedenfalls nicht, was die Entehrung des Kreuzes und die Ketzerei an sich betraf. Doch das was der rotblonde Kerl sagte, ärgerte ihn sehr, denn es war vollkommen einseitig und traf sicher auf einige, aber nicht auf alle Mönche zu.

„Du verallgemeinerst wohl gerne, was?“ fragte er ungehalten. „Das ist, als würde ich alle hier Anwesenden an dir messen. Und das wäre wohl nicht sehr freundlich.“

„Was willst du damit sagen, Mönchlein?“ fragte der Angesprochene und erhob sich drohend. Michael trat ihm entgegen. Sie waren beide gleich gross und jetzt, da sie sich in den Haaren lagen, ein besonders einschüchternder Anblick, denn die anderen Leute im Schankraum wichen vorsichtshalber einige Schritte zurück. Michael wunderte sich noch ganz kurz, warum der Abt Lucius nicht eingriff, doch sein Zorn lenkte ihn sogleich wieder ab. Er sprach zu seinem Gegenüber: „Was ich damit sagen will? Nun..., dass ich ja nicht alle hier, als betrunkenen Störenfriede ohne Manieren bezeichne...“

Gleich darauf wurde er von einem Schlag des Rotblonden zu Boden geschleudert. Etwas benommen erhob er sich wieder und schlug dem Angreifer die Faust ebenfalls direkt ins Gesicht.

An das was nachher kam, würde er sich nur noch verschwommen erinnern. Einige andere mischten sich in den Kampf ein und bald darauf war eine wilde Schlägerei im Gange. Michael bekam nun zu spüren, dass Mönche hier wohl nicht allzu beliebt waren, denn bald konnte er die Faustschläge, die ihn trafen, nicht mehr zählen. Schliesslich schlug er nur noch blindwütig um sich. Er kam in einen richtigen Kampfrausch, nichts mehr um sich herum nahm er sonst noch wahr. In diesen Momenten hatten alle Gegner dasselbe unverkennbare Gesicht: Nämlich das seines Vaters!

Michael fühlte sich dann wie in der Zeit zurückversetzt, sah sich wieder als kleiner Junge. Doch diesmal war er stark und konnte sich gegen seinen Vater zur Wehr setzen. Das tat er dann jeweils mit aller Heftigkeit. Erst als er am Ende seiner Kräfte schliesslich doch zu Boden ging, erblickte er noch kurz das Gesicht von Lucius. Dieser stand vollkommen unbeteiligt am Rande des Getümmels und ein hämisches Lächeln umspielte seinen Mund, keine Gefühlsregung war in seiner Miene zu erkennen. Und... in diesem Moment erkannte Michael dessen wahres Wesen! „Ich bin ihm auf dem Leim gegangen...,“ war der letzte Gedanke, der ihm noch kam, dann versank er in schwarzer Nacht...

 

Als Michael wieder zu sich kam, fand er sich in einem alten Feldbett wieder. Das trübe Licht einiger Öllampen erhellte den Raum. Er sah sich um. Er war nicht allein hier. Um ihn herum standen noch andere Betten und ab und zu drang leises Stöhnen an seine Ohren. Wo war er? Etwa im Lazarett? Er wollte sich erheben, doch sein ganzer Körper schmerzte. Überall hatte er blaue Flecken und einige Platzwunden. Das linke Auge war ganz zugeschwollen. Er musste furchtbar aussehen.

Der Mönch versuchte seine Gedanken zu ordnen. Was genau war geschehen? Er erinnerte sich daran, dass ihn ein rotblonder Kerl angepöbelt hatte. Sie hatten Beleidigungen ausgetauscht und dann war er angegriffen worden. An den Rest erinnerte er sich kaum. Er hatte solche Ausfälle öfters... dann, wenn er richtig ausrastete, das machte ihm Angst. Denn wie konnte er wissen, dass er nicht jemanden ernsthaften Schaden zufügte, wenn er zornig war.

An etwas erinnerte er sich allerdings noch sehr genau: an Lucius’ Ausdruck, sein hämisches Lächeln, seine Teilnahmslosigkeit. Keinen Finger hatte er gerührt, um ihm zu helfen oder den Streit zu schlichten. Was nur war das für ein Abt? Er wurde ihm immer unheimlicher. Hatte er ihn womöglich ins Lazarett gebracht? Oder vielleicht doch nicht? Er traute diesem Kerl alles zu.

„Es ist als hätte er genau von meinem Problem gewusst,“ ging es ihm durch den Kopf. „Wollte er vielleicht deswegen, dass ich mit hierher komme, um mich in eine solche Situation zu bringen?“

Michael hasste diesen Teil an sich, diesen Jähzorn, diese Unkontrolliertheit. War er womöglich aus Angst davor, einst ins Kloster eingetreten? Wie nur hatte er sich in so eine Situation hineinmanövrieren können?

 

„Ach, du bist wach?“ hörte er auf einmal eine helle, wohlklingende Stimme. Aus dem Schatten trat eine Frau, etwa in seinem Alter. Sie trug eine weisse Schürze, ein einfaches graues Kleid und eine Haube auf dem Kopf. Erstaunt blickte er sie an. Ihre Züge waren edel. Sie hatte einen schöngeschwungenen Mund, grosse, rehbraune Augen, überschattet mit dunklen Wimpern und einen schlanken, langen Hals. Ihre Wangenknochen waren hoch, ihr Körperbau zierlich und ihr dunkles Haar, das etwas unter der weissen Haube hervorschaute, war mit silbernen Strähnen durchzogen. Irgendwie kam sie ihm sehr bekannt vor.

Als sie dann noch mehr ins Licht trat, weiteten sich seine Augen und er blickte sie fassungslos an. „Theresa! Bist du es?“

Die Frau zuckte zusammen.

„Erkennst du mich nicht mehr?“ fragte er. „Ich bin’s Michael!“

„Michael?“ Sie mustere ihn nun voller Erstaunen. „Ja, du bist es! Du hast dich verändert.“

„Ich wurde auch ziemlich übel zugerichtet,“ erwiderte er mit einem gequälten Lächeln.

„Das kann man wohl sagen. Doch auch sonst siehst du anders aus. Früher warst du...“

„Etwas schlanker, weniger kräftig, meinst du?“ „So in etwa, ja... Oh mein Gott ich kann es kaum glauben, dass ich dich hier treffe! Ich dachte in letzter Zeit öfters an dich.“

„Wirklich?“ fragte Michael erfreut und sein Herz schlug auf einmal bis zum Hals. „Mir erging es gleich. Seltsam nicht? Ist dein Mann auch hier?“

„Nein, Heinrich ist schon vor einer ganzen Weile gestorben.“ Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern.

„Er wurde hingerichtet.“

„Hingerichtet? Aber warum?“

Theresa schien zu überlegen, ob sie Michael vertrauen konnte, dann meinte sie, so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen: „Er hat mit den Templern sympathisiert. Er bot einigen von ihnen Unterschlupf, dafür wurde er hingerichtet. Du musst wissen, zurzeit ist eine richtige Hexenjagd auf die Tempelritter im Gange. Sie werden schrecklicher Verbrechen beschuldigt.“

„Ja, davon habe ich gehört. Stimmen diese Beschuldigungen denn überhaupt?“ „Natürlich nicht, das Ganze ist völliger Schwachsinn! Die Tempelritter haben Grosses geleistet. Man sagt sogar, sie wissen das Versteck des heiligen Grals.“

„Ist das nicht eine Legende?“

„Ich kann es nicht sagen. Vielleicht ist der Gral auch nur ein Symbol für etwas...“ 

„Wofür?“

„Für das Gute, das in allen Menschen schlummert. Wir müssen es nur finden, dann finden wir auch den Gral. Jedenfalls sagte mir das mal mein Vater.“

„Dein Vater lebt noch?“

„Nein, er ist nach Jerusalem gegangen und dort gefallen,“ erwiderte sie traurig.

„Das tut mir sehr leid. Wie bist denn du hierher nach Dalmatien gekommen?“

„Bevor man Heinrich verhaftete, schickte er mich weg. Er wollte nicht, dass mir etwas passiert. Ich lebte eine Weile, bei einer befreundeten Familie auf dem Festland. Irgendwann verschlug es mich dann nach Hvar und ich beschloss schliesslich, hier zu bleiben und mich um die Hilfsbedürftigen zu kümmern.“

„Du lebst ganz allein hier?“

„Nein, in einer Art Schwesterngemeinschaft.“

„Du bist Nonne geworden?“ fragte Michael und er konnte eine gewisse Enttäuschung in seiner Stimme, nicht verbergen.

„Nein, nein. Wir helfen einfach den Menschen. Wir leben nach der Philosophie Hildegards von Bingen. Sie kam im Jahre 1098 zur Welt und starb im Jahre 1179. Hildegard war eine erstaunliche Frau mit vielen Fähigkeiten. Sie erkannte die Wichtigkeit des Menschen im Kosmos der Schöpfung und seine Pflicht, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Sie war keine Ja- Sagerin, von diesen gibt es schon genug. Ich schätze ihre Lehre sehr und richte mich so gut ich kann danach. Wir leben in einer schwierigen Zeit, in der es selbständig denkende, mündige Menschen braucht. Ich weiss nicht, ob du das verstehst. Ein Mönch steht vielleicht etwas anders dazu.“

„Nein, “ erwiderte Michael seltsam berührt, „Du hast recht. Wir müssen mündig werden und Verantwortung für unsere Taten übernehmen.“ Auf einmal glaubte der Mönch, ein Licht gehe ihm auf. Genau das war es: Eigenverantwortung! „Ich muss noch viel lernen, Theresa“, sprach er leise. „Vielleicht kannst du mit dabei helfen.“ „Ich dir helfen?“

„Ja, du musst wissen, ich bin gerade in einer schwierigen Phase. Alles scheint irgendwie schief zu laufen und...ich weiss ehrlich gesagt nicht, wie mein Leben weitergehen soll.“

„Bist du denn nicht glücklich?“

„Nein“, flüsterte er. „Nicht wirklich. Nun wird mir das noch stärker bewusst.“

„Ich möchte von dir lernen, Theresa. Willst du meine Lehrerin sein?“

„Ich tue, was ich kann“, lachte sie und so geschah es...

 

Die Zeit mit Theresa sei die Glücklichste seines Lebens gewesen, erzählte mir Michael später. Schon als er wieder auf unsere Insel zurückkehrte, merkte ich, dass in ihm eine Wandlung stattgefunden hatte. Seine Ausstrahlung war nun voller Licht und Freude. Das helle Karminrot und das sanfte Rosa, das seinen Körper umgab, deuteten auf eine grosse Liebe hin. Lucius schien hingegen ganz besonders unzufrieden. Konnte es sein, dass er sich etwas anderes von dieser Reise versprochen hatte? Michael mied seine Gegenwart, so gut er konnte. Er schien den neuen Abt nun noch weniger zu mögen, als vor seiner Abreise. Ich platzte fast vor Neugier und wollte Michael so schnell als möglich auf seine Wandlung ansprechen.

Schliesslich ergab sich eine günstige Gelegenheit. Ich traf Michael auf einer steinernen Bank des Innenhofes. Als ich zu ihm trat, begrüsste er mich herzlich: „Ach, Antonio! Schön, dass du kommst! Setz dich doch etwas zu mir!“

Erstaunt folgte ich seiner Aufforderung. So etwas hatte er bisher noch nie getan. „Du siehst gut aus“, meinte ich schliesslich. „War die Reise nach Hvar schön?“

„Ja, sie hat mir sehr Vieles klar gemacht“, erwiderte Michael nachdenklich.

„Was denn?“

„Nun, erstens mal weiss ich nun, dass etwas mit unserem neuen Abt nicht stimmen kann. Er benimmt sich keineswegs, seinem Stande angemessen...“

Ich horchte auf und fragte vorsichtig: „Was meinst du damit?“

Dann erzählte mir mein Mitbruder, was sich in der alten Spelunke zugetragen hatte. „Du hast, dich mit einem Fremden geprügelt?“

„Ja“, antwortete Michael etwas beschämt. „Ich habe mich mal wieder nicht beherrschen können. Ich glaube ich habe ein Aggressionsproblem, an dem ich dringend arbeiten muss.“

 Ich staunte über diese Einsicht, die sich wie damals bei Ignarius durch blaue und gelbe Wellenlinien, in der Ausstrahlung Michaels abzeichneten. Es freute mich sehr und ich platzte vor Neugier darüber, was wohl in diesem Mann diese gewaltige Veränderung herbeigeführt hatte. Doch ich drängte meinen Mitbruder nicht. Wenn er wollte, würde er es mit schon sagen.

„Das Verrückte an der Schlägerei war“, fuhr Michael fort. „Lucius rührte keinen Finger, um mir zu helfen oder den Streit zu schlichten. Es...kam mir eher so vor, als hätte er mich absichtlich in diese Situation hineinmanövriert. Auch ins Lazarett haben mich andere Männer gebracht. Unser feiner Abt liess sich erst viel später wieder blicken, mit der Begründung, dass er noch sehr viel zu erledigen gehabt hätte. Und so einer soll ein Abt sein? Nun gut, ich habe tatsächlich ein Autoritätsproblem. Ich mag keine Autoritätspersonen. Aber dieser Kerl... also ich weiss wirklich nicht, was mit dem los ist. Jedenfalls vertraue ich ihm kein Stück. Am Anfang fühlte ich mich noch geschmeichelt, dass er mich nach Hvar mitnehmen wollte, doch seit diesem Vorfall...“

„Ich kann dich sehr gut verstehen, Michael“, erwiderte ich ernst. „Auch ich traue Lucius nicht über den Weg. Ich glaube sogar, dass er schuld am Tode von Franz ist.“ „Wirklich?“ Michaels Augen wurden gross. „Ich dachte, Ignarius...“

„Daran zweifle ich. Die Menge, die er Franz an Faulbaum verabreicht hat, hätte ihn niemals umgebracht. Da wurde nachgeholfen.“

„Aber wenn das so ist, dann müssen wir hier alle vielleicht um unser Leben fürchten... Ja, genau!“

 Ein Geistesblitz erhellte Michaels Aura. „Wir alle sollten oder sollen Opfer unserer eigenen Schwächen werden. Bei Franz war es die Fresssucht, bei Ignarius der Fanatismus und die Eitelkeit, bei mir sollte es der Jähzorn sein... Was ist es bei den andern?“

 „Bei Leopold ist es die Angst vor dem Bösen“, fügte ich leise hinzu.

 „Ja, das ist es. Genau das! Dieser schwarze Mönch will irgendwie bewirken, dass wir uns selbst in den Abgrund stürzen!“ rief Michael aus.

„So etwas habe ich mir auch schon gedacht“, bestätigte ich. „Wir müssen sehr auf der Hut sein. Ich weiss nicht was dieser schwarze Mönch tut, doch irgendwie stellt er es an, dass all unsere Schwächen besonders hervortreten.“

„Was ist es bei dir?“ fragte Michael.

Ich dachte nach. Bisher war mir nichts Besonderes aufgefallen. Ausser, dass ich wieder mehr sah als die letzten paar Jahre. Ich sah nun wieder die unsichtbaren Wesen, die alles belebten. Ich verstand von Neuem die Sprache der Bäume, der Winde, und des Wassers. Auch sah ich die bösen Kreaturen, die das Kloster immer mehr zu bevölkern schienen. Zum Glück sah ich aber nur, wenn ich auch sehen wollte. Das war als Kind nicht so gewesen. War das nun positiv oder negativ zu werten? Schliesslich entschloss ich mich, mich Michael anzuvertrauen. Ich erzählte ihm von meiner Gabe. Nach Martin war er der erste, dem ich alles anvertraute.

Michael staunte sehr. Am Ende sagte er etwas, das mich sehr berührte: „Ich wusste schon immer, dass du etwas Besonderes bist, Antonio. Dich hat der Himmel hierher geschickt. Deine Gabe ist eine Gabe Gottes. Du solltest dich an ihr freuen, denn sie lässt dich alles viel klarer sehen. Lucius fürchtet dich. Denn er hat keine Macht über dich, weil du um die Dinge weißt, die… sind. Du erkanntest sein wahres Wesen, bevor wir anderen es nur erahnten. Gott hat dir gezeigt, dass er will, dass du diese Gabe nutzt, um anderen zu helfen. Diese Gabe ist nichts Schlechtes. Sie ist wundervoll. Sei dir dessen stets bewusst...“

Ich schluckte. Noch nie hatte mir jemand solche Worte gesagt. Ich war tief berührt und zugleich fiel mir ein schwerer Stein vom Herzen. Ja! Ich konnte diese Gabe nutzen, um Gutes zu tun! Erst jetzt wurde mir klar, dass ich durch deren ständiges Verdrängen, einen Teil von mir aufgegeben hatte. Diese Gabe gehörte zu mir. Ich war unvollkommen ohne sie, denn sie verband mich mit Gott und seiner wunderbaren Schöpfung.

Ich schaute Michael an. Nie hätte ich gedacht, dass er mir einst diese erlösenden Worte sagen würde. Ich war ihm unendlich dankbar dafür. „Du hast dich wirklich sehr verändert“, sprach ich.

„Die Liebe verändert einen, Antonio. Ich habe die Liebe gefunden, die ich mein ganzes Leben lang suchte. Nie hätte ich das für möglich gehalten. Ich fand sie bei einer Frau namens Theresa. Sie und ich kannten uns schon als Kinder. Wir liebten uns schon damals, doch sie musste einen anderen heiraten. Dieser ist nun mittlerweile verstorben. Als sie heiratete, haben wir uns aus den Augen verloren. In Hvar habe ich sie nun wieder getroffen.“ Er lachte spöttisch auf. „Das hatte Lucius wohl nicht so geplant, denn durch Theresa erfuhr ich eine wundersame Heilung. Ich bin ein besserer Mensch geworden. Ein Mensch, den ich nun nicht mehr hassen muss, wenn ich ihn im Spiegel sehe. Ich weiss nun genau, was ich will. Anfangs haderte ich noch mit mir. Ich dachte, ich dürfe meine Gelübde Gott gegenüber niemals brechen. Viele werden mich dafür verachten, aber ich lebte die ganze Zeit eine Lüge und ich glaube nicht, dass ich Gott damit gut diene. Darum entschloss ich mich zu einem grossen Schritt. Ich wollte nur noch kurz hierher zurückkehren, weil ich einfach glaube, dass ich an diesem Ort noch eine Aufgabe zu erfüllen habe. Wenn ich diese aber erfüllt habe, dann werde ich mein Mönchsdasein aufgeben und mit Theresa zusammenleben. Wir werden es nicht leicht haben, aber wir können uns all dem stellen. Theresa habe ich zu verdanken, dass ich mein Herz, das über die Jahre so versteinert wurde, wieder schlagen höre. Ich lebe wieder, seit so vielen Jahren und ich sehe nun was ich verändern muss. Ich will ein wahrer Diener Gottes werden und dass kann ich, so wurde mir klar, nur ohne Mönchskutte. Alles andere wäre ein Verbrechen gegen andere, gegen mich selbst und auch gegen Gott. Ich will in Zukunft eine gerade Furche pflügen. In meinem kommenden Leben soll alles aufrichtig und ehrlich sein. Das habe ich mir geschworen.“

Ich war erschüttert und zugleich tief beeindruckt, von dem was ich da hörte. Ich wusste, es war ein grosser Schritt, den Michael da machte. Dennoch glaubte ich, dass es das Richtige für ihn war. Die Liebe zu einer Frau hatte den harten Kern dieses Mannes zum Schmelzen gebracht. Irgendwie tief in meinem Inneren beneidete ich ihn sogar etwas für die Klarheit, die sein Leben nun erfüllte. Dennoch erkannte ich das mein Weg ein anderer sein würde. Heute glaube ich, dass wir alle unseren ganz bestimmten Weg erst finden müssen. Dies ist nun mal der Tribut, der ein fühlendes Wesen zu zahlen hat. Oft findet man seine Weg ein ganzes Leben lang nicht, manchmal schon und manchmal geht man ihn schon, ohne es zu bemerken...“

 

Der verschlagene Thomas hörte hinter einen Busch gekauert beinah alles mit, was Michael und Antonio besprachen. Interessiert spitze er seine Ohren. Ein bösartiges Lächeln umspielte seinen Mund dabei. Da gab es einiges, was er dem Abt berichten konnte. Da war tatsächlich eine Verschwörung im Gange. Kein Wunder, dieser garstige Michael sorgte doch immer für Ärger. Er hasste ihn aus tiefstem Herzen. Auch dieser Antonio war ihm schon von Anbeginn an, nicht geheuer gewesen. Er hatte also besondere Fähigkeiten? Das würde sich als interessant für die Inquisitoren erweisen. Bestimmt würde Lucius sich an jene wenden, wenn er das mit Antonio erfuhr.

Thomas empfand kein Mitleid mit ihm. Die andern sollten nur leiden, so wie er das ganze Leben lang gelitten hatte. Man hatte ihn ständig gemieden, verachtete und ausgelacht. Seine Eltern schickten ihn ins Kloster. Sie glaubten, er habe es nötig, geläutert zu werden. Schon als kleiner Junge hatte Thomas eine sadistische Ader gehabt. Er quälte mit Vorliebe Tiere und schwächere Menschen. Wenn er auf jemanden wütend war, griff er zu drastischen Mitteln. Er und seine Eltern waren Unfreie. Einmal hatte ihn sein Herr erwischt, als er einige seiner Äpfel klaute. Er hatte Thomas verprügelt und ihn dann zu dessen Eltern geschleift. Diese bestraften, den damals Zehnjährigen, noch zusätzlich mit einer Woche Hausarrest.

Als diese Woche vorbei war, schlich sich Thomas eines Nachts zur Scheune seines Herrn und legte dort Feuer. So konnte der Nachbar gleich seine ganze eingelagerte Ernte vergessen. Auch zwei Kühe und ein Pferd kamen dabei ums Leben. Thomas hörte ihre Todesschreie, doch es liess ihn kalt. Er gönnte deren Besitzer dessen Schmerz und bedachte dabei gar nicht, dass er mit seiner Tat auch sich und seinen Eltern schadete. Es gab viele verschiedene Vorfälle in Thomas Jugend und alle gingen ihm deshalb aus dem Weg. Die Eltern wussten nicht mehr, wie sie mit ihm klarkommen sollten, so verfrachteten sie ihn ins Kloster. Der heute 38- Jährige hasste diesen Ort. Ausserdem wurde er hier ständig überwacht und so lernte er seine Schandtaten nicht mehr allzu offensichtlich zu praktizieren. Nur ganz im Stillen ersann er neue Ränke, um der Klostergemeinschaft zu schaden. Er war ziemlich erfolgreich, immerhin gab es hier kaum jemanden, der den anderen leiden konnte.

Auf einmal aber, tauchte dieser überaus reine Martin auf. Er war mit allen immer so lieb und nett. Thomas konnte das nicht ausstehen. Er glaubte sowieso nicht daran, dass es Menschen reinen Herzens gab. Alle waren doch immer auf ihre Vorteile aus. Durch das Auftauchen von Antonio wurde es noch schlimmer und Thomas hatte auf einmal das ungute Gefühl, alles entgleite ihm.

Eines Nachts dann begegnete ihm Lucius das erst Mal. Es war wie ein Traumbild und doch so real. Er kündete ihm sein Kommen an und versprach ihm, alles wieder ins Lot zu bringen. „Du bist ein treuer Diener und ich versichere dir, dass du für deine Taten belohnt werden wirst“.

Zuerst verstand Thomas nicht so recht, was genau damit gemeint war, doch als Lucius dann so unerwartet, plötzlich vor ihm stand, erkannte er, dass dieser Mann auf seiner Seite war. Sogleich wurde er zu seiner rechten Hand. Das hätte es bei dem alten Mauritius nie gegeben. Er trauerte diesem kein Bisschen nach. Wie auch den andern Mönchen nicht, die bisher den Tod gefunden hatten. Sie alle bekamen nur das, was sie verdienten...

Thomas streichelte mit der Hand liebevoll über den Dolch, den er in der Hand hielt. Er war wegen einer besonderen Sache hierhergekommen, sie bezog sich auf Michael. Als Lucius ihm den Auftrag gegeben hatte, sah Thomas den Hass in seinen Augen funkeln. Irgendwas musste Michael angestellt haben, das den neuen Abt in Rage brachte. Schon lange hatte Thomas auf diesen Augenblick gewartet. Nun musste nur noch Antonio verschwinden und dann... Er erhob sich etwas aus seiner Kauerstellung, als dieser sich zum Gehen anschickte. Dann schlich er sich von hinten an Michael heran...

 

Als ich Michal wieder verlassen wollte, hatte ich auf einmal ein sehr unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Ich wusste nicht, was es war. Doch ich hielt inne und beschloss, die Strecke, die ich gegangen war, nochmals zurückzugehen. Als ich wieder beinahe bei der Bank angelangt war, erschrak ich zu Tode! Thomas pirschte sich gerade, mit gezücktem Messer, von hinten an Michael heran.

„Michael!“ schrie ich. „Pass auf, hinter dir!“

Mein Mitbruder fuhr herum und bekam gerade noch Thomas’ Arm zu packen, bevor dieser zustach. Dann ging alles rasend schnell. Michael schlug dem Angreifer das Messer aus der Hand und dieses fiel zu Boden. Beide Mönche hechteten nun gleichzeitig danach. Thomas war schneller und stürzte sich mit Wutgeheul erneut auf Michael. In seinen Augen loderte blanker Hass. Doch auch Michael war zornig.

„Du kleiner Mistkerl,“ knirschte er. „So weit sind wir also schon? Du wolltest mich umbringen.“ Die beiden rangen miteinander. Michael entwand Thomas erneut den Dolch und warf ihn mir zu. Bring dich in Sicherheit!“ schrie er. Ich schaute das Messer immer noch vollkommen ungläubig an und konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ich sah die Luft um die beiden Kämpfenden, in schwarzrotem Schein pulsieren. Die ganze Umgebung wurde dabei in Mitleidenschaft gezogen. Es war ein sehr verstörender Anblick. Davon abgelenkt, erkannte ich nicht, dass ich nun zum Ziel von Thomas geworden war. Dieser riss sich von Michael los und stürzte sich auf mich, um mir das Messer erneut zu entwinden.

„Du machst immer alles kaputt“, zischte er. „So werde ich eben dich zuerst umbringen.“

Die Wucht seines Angriffs warf mich zu Boden und das Messer fiel mir aus der Hand. Thomas ergriff es und wollte damit auf mich einstechen. Die blanke Klinge blitze im Sonnenlicht auf. Doch dann hielt mein Feind, mitten in seiner Handlung, mit verzerrtem Gesicht inne. Er rollte zu Boden und blieb reglos liegen. Michael stand hinter ihm. In seiner Hand hielt er einen blutverschmierten, spitzen Stein. Eine tiefe Wunde klaffte in Thomas Hinterkopf. Das Blut färbte den hellen Boden um ihn herum rot. Keuchend liess sich Michael neben mir nieder. „Alles in Ordnung mein Freund?“ „D...du hast mir das Leben gerettet, “ flüsterte ich. „Ist er...“ Michael fühlte Thomas Puls.

„Ich fürchte ja. Der Kerl wollte mich doch tatsächlich umbringen. Wenn du mich nicht gewarnt hättest... Nun sind wir wohl quitt.“ „Was aber tun wir mit ihm? Wir müssen es den anderen sagen.“

„Das gibt mächtigen Ärger mit Lucius," gab Michael zu bedenken.“

„Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht“, sprach ich. „Ich nehme die Schuld auf mich.“

„Das darfst du nicht, Antonio! Bestimmt finden wir einen andern Weg. Es wird sowieso Zeit, dass wir endlich mit offenen Karten spielen. Lucius Macht ist nicht unbegrenzt. Wir wissen um sein wahres Wesen. Wenn es einen Gott gibt wird es Zeit, dass er eingreift. Wir stehen das durch... mit Seiner Hilfe...“

„Wir sollten wohl ein Gebet für ihn sprechen“, meinte Antonio und sprach: „Herr gib ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm..." Doch er zweifelte daran, dass es dort, wo Thomas hinging, viel Licht gab. Er betrauerte diesen Menschen, dessen Leben hauptsächlich daraus bestanden hatte, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Gab es für ihn noch Hoffnung? Manchmal hätte sich der 18- Jährige gewünscht, auch Einblick in die Mysterien der jenseitigen Welt zu bekommen. Doch das war nun mal nicht möglich. Gedankenverloren faltete er Thomas die Hände auf der Brust und wischte ihm das restliche Blut ab. In seinem tiefsten Inneren setzte er seine Hoffnung darauf, dass Gott dennoch Gnade walten liess.

Schliesslich wandte er sich an Michael, der schweigend neben ihm stand. „Und wie soll es jetzt weitergehen?“ fragte er.

„Ich glaube, darüber müssen wir uns keine Gedanken mehr machen,“ erwiderte dieser. „Da kommt nämlich Lucius schon. Der ist wie ein Bluthund, er kriegt alles mit. Ich denke, wir müssen ihm wohl die Wahrheit sagen. Ich erzähle ihm, dass ich es war.“

„Nein! Das darfst du nicht!“ rief Antonio. „Du hast viel mehr zu verlieren als ich.“

„Aber du bist der mit den besonderen Fähigkeiten, darum musst du für uns alle weitermachen. Lucius... er fürchtet dich am meisten. Ausserdem war es Notwehr.“ „Der Abt wird es aber so hinbiegen, dass du als Mörder dastehst, wie damals Ignarius.“

„Das glaube ich nicht. Wir werden ihn vorher zu Fall bringen.“

„Ich hoffe es...“ sprach der junge Mönch leise, dann stand Lucius auch schon vor ihnen...!

„Was um alles in der Welt ist hier passiert?“ fragte er du sein Blick haftete auf Thomas’ Leichnam. Das erste Mal schien er wahrlich erschrocken. Bestimmt auch, weil sein Plan, Michael aus dem Weg zu räumen, fehlgeschlagen war. „Er wollte mich umbringen“, sprach jener nun und sein Blick durchbohrte den Abt, als er kühl hinzufügte: „Das war wohl nicht das Ergebnis, dass du erwartet hast Lucius.“

„Was willst du damit sagen?“ erwiderte der Schwarzgewandete und seine Stimme war schneidend wie eine Klinge.

„Du weißt das selbst am besten“, antwortete Michael ungerührt. „Was für einen respektlosen Ton schlägst du da an, Bruder?“

„Wir sind keine Brüder, Lucius und waren es auch nie.“

„Für einen Mörder bist du sehr unverschämt, “ meinte der Abt. „Nicht ich bin der Mörder. Ich habe Thomas in Notwehr getötet.“

„Ja, das stimmt!“ warf Antonio ein. Die Augen von Lucius richteten sich nun auf ihn. „Ich habe alles mitbekommen“, fügte der junge Mönch hinzu.

„Ach ja? Das wird sich noch zeigen. Jedenfalls wird Michael vorläufig eingesperrt, bis sich die Sache geklärt hat.“ Antonio kämpfte mit sich. Sollte er den Abt wohl herausfordern? Nein, es war noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Das las er auch in Michaels Augen. So liess er es geschehen, das Lucius seinen Freund abführte und in den Keller sperrte.“

„Ich hol dich da bald wieder raus“, flüsterte er ihm noch zu.

Michael nickte. „Ich vertraue dir. Besuch mich bald mal, ja?“ Antonio nickte, doch er fühlte einen dicken Kloss im Hals.

 

2. August anno 1308 

 

Der junge Martin war schon von Geburt an ein besonderes Kind gewesen. Mit seinem sonnigen Wesen hatte er die Leute schon als Baby verzaubert. Für jeden hielt er ein Lächeln bereit. Seine blauen Augen strahlten, hell wie Sterne. Alle waren beeindruckt von diesen Augen.

Er hatte das Glück gehabt, in einem intakten Elternhaus aufzuwachsen. Seine Eltern waren tief religiös, jedoch niemals fanatisch. Im Gegenteil, sie waren immer sehr offen für Neues und bemühten sich stets, die Liebe wahrhaftig zu leben. Sein Vater war ein begeisterter Verehrer von Franziskus, der einst als „Kreuzfahrer ohne Waffen“ zwischen 1217 und 1221 ins Heilige Land gereist war und vor dem Sultan von Ägypten, einem Moslem, gepredigt hatte. Franziskus war damit dem Beispiel eines Mönches namens Raimundus Lullus gefolgt, der zur friedlichen Eroberung des Heiligen Landes aufgerufen hatte. Bisher waren die Kreuzzüge immer blutig verlaufen. Doch viele Menschen lernten aus den Misserfolgen und plädierten für friedliche Lösungen. Franz von Assisi beeindruckte den Sultan von Ägypten damals sehr und jener forderte ihn auf, länger zu bleiben.

Martins Vater Johannes, gehörte zu den sogenannter „Rittern vom Heiligen Grab“. Martin war immer sehr fasziniert, wenn dieser den weissen Rittermantel mit dem roten, fünffachen Jerusalemkreuz auf den Schultern, trug. Johannes hatte einst, als er als Pilger nach Jerusalem gereist war, beim heiligen Grabe Christi den Ritterschlag erhalten. Martin wünschte sich schon als kleiner Junge, eines Tages ebenfalls ins Heilige Land zu pilgern. Doch bisher war es nie dazu gekommen. Dennoch blieb dieser Traum stets gegenwärtig. Noch war er ein junger, unerfahrener Novize, doch sobald er alt genug war, würde er ihn sich erfüllen.

Es dämmerte gerade und Martin nutzte den Feierabend, um an seinem Lieblingsplatz am Meer, den Sonnenuntergang zu beobachten. Der abendliche Himmel leuchtete in allen Abstufungen von orange und rot. Nachdenklich beobachtete Martin, wie der glühende Sonnenball am Horizont unterging. Irgendwo da draussen wartete das Heilige Land auf ihn... Sein Blick schweifte unvermittelt herüber zu den dunklen Klostermauern. Sie bildeten einen grotesken Gegensatz zur warmen Tönung der Umgebung. Irgendwie erschien es ihm, als würden sie seit einiger Zeit das Sonnenlicht richtig absorbieren. Sie wirkten stets gleich düster. Das beunruhigte Martin. Manchmal überkam ihn das seltsame Gefühl, als würden die Mauern unsichtbare Klauen nach ihm ausstrecken, um ihn davon abzuhalten, jemals von hier wegzukommen. Keine angenehme Vorstellung, denn der 13- Jährige hatte eigentlich schon seit einer ganzen Weile geplant, diese Insel zu verlassen, sobald er ein richtiger Mönch war. Es gefiel ihn hier nicht und seit Mauritius verschwunden war, noch viel weniger. Etwas stimmte mit diesem neuen Abt einfach nicht. Hatte Martin früher noch das Gefühl gehabt, frei entscheiden zu können, ob er ging oder blieb, glaubte er nun auf einmal keine Wahl mehr zu haben. Wer oder was diese Gefühle auch immer in ihm auslöste, dessen Motive waren alles andere als ehrenhaft.

Die Sonne war nun beinahe untergegangen und Martin erhob sich langsam. Er trat an den Rand der Klippe, auf der er stand und blickte hinunter ins, immer dunkler werdende, Wasser. Die Gischt der Wellen, die gegen die wie Elfenbein schimmernden Felsen spritzte, glitzerte im Abendlicht. Noch lag ein purpurner Schein auf allem, doch bald würde auch dieser verblassen. Genauso wie der allerletzte Glanz des Klosters auf der Insel, daran war zu verblassen. Die neugestrichenen Fassaden konnten auch nicht über diese Tatsache hinwegtäuschen. Martin dachte an das, was einigen seiner Mitbrüder zugestossen war und einen Moment lang kam es ihm so vor als ob die nun schwarzen Strudel des Meeres, ihn verschlingen wollten. Er schwankte einen Augenblick, fasste sich aber wieder. Soviel Elend war an diesem Ort geschehen: Ignarius tot, Franz tot, Mauritius einfach verschwunden, Thomas tot und nun Michael auch noch eingesperrt. Antonio hatte dem Jungen gesagt, dass letzterer Thomas getötet hatte, um Antonio das Leben zu retten. Martin glaubte das und umso mehr, wuchs seine Abneigung Lucius gegenüber. Noch nie hatte er solche Verachtung für jemanden anderen empfunden. Doch es kam ihm so vor, als ob Lucius es geniessen würde, andere leiden zu sehen. Martin verabscheute ihn und er verabscheute...

Seine Gedanken wurden jäh von einer Stimme hinter ihm unterbrochen: „Ein schöner Abend heute, nicht?“ Der Junge zuckte erschrocken zusammen. Konstantin stand hinter ihm! Instinktiv wich Martin einen Schritt zurück...

 

(Warnhinweis: In diesem Teil geht es um Missbrauch, aber nicht explizit beschrieben. Dennoch könnte es einige Leser erschüttern)

 

„Geh hinunter zur Klippe!“ Dieser eindringliche Ruf erreichte meinen Geist, als ich gerade daran war, das Johannesevangelium zu lesen. Ich blickte erstaunt auf, sah aber niemanden, der zu mir sprach. Nur einige seltsame Lichtschwaden, die einen Moment lang um mich wogten, aber dann wieder verschwanden. War es ein Engel gewesen? Geh hinunter zur Klippe? Was war wohl damit gemeint? Ein ganz eigenartiges Gefühl ergriff mich. Ich klappte die Heilige Schrift zu und rannte mit ihr in der Hand aus dem Haus. Unterwegs begegnete mir Leopold. Er schloss sich mir sofort an, als ich ihm erzählte was mir widerfahren war.

So schnell wir konnten, liefen wir hinunter zur Klippe. Je näher wir ihr kamen, desto unwohler wurde mir. „Ich habe Martin nirgends gesehen,“ keuchte Leopold „und Konstantin auch nicht.“

Eine schreckliche Vorahnung schien meine Eingeweide zusammenzuschnüren, ich lief noch schneller.

Und dann sah ich sie: Konstantin und Martin! Mein junger Freund stand wie erstarrt mit dem Rücken gegen den Abgrund. Sein Gewand war an einer Seite heruntergerissen. Konstantin stand ganz dich vor ihm und redete auf ihn ein. Er streckte seine Hand nach dem Jungen aus, wollte ihn vermutlich auf schändliche Weise berühren. Wut kochte ihn mir hoch, wie ein wildes Tier, das sich in meinem Inneren aufbäumte. „Lass ihn sofort in Ruhe, Konstantin!“ schrie ich so laut, dass ich selbst überrascht war. Konstantin liess von Martin ab und wich einige Schritte zurück.

„Im Namen Gottes, entferne dich von ihm!“ schrie ich erneut und schwang die Bibel über meinem Kopf, wie eine Waffe.

Konstantin trat nun endlich zur Seite und Martin floh weinend in meine Arme.

„Was um alles in der Welt tust du da?“ fragte Leopold entsetzt. „Hast du vollkommen den Verstand verloren?“

Konstantin sah uns nun an. Doch anders als erwartet, lag tiefe Verzweiflung in seinem Blick. „Ich… wollte ihm doch nicht wehtun. Ich… liebe ihn doch. Er ist so rein und unschuldig. Ich wollte... von ihm lernen. Ich wollte ihn glücklich machen.“

Ich schaute ihn fassungslos an. Seine Aura wirkte wie zerfetzt, zerrissen, geschändet. Er war nicht mehr Herr seiner selbst. Ein bedauernswerter Mensch, stand hier vor mir. Doch ich empfand unbändigen Zorn ihm gegenüber, denn er hatte Martin etwas Schreckliches antun wollen. Der Junge würde sein Leben lang unter diesem Ereignis leiden.

„Er... soll es besser haben als ich...“ murmelte Konstantin nun beinahe unhörbar. „Man soll ihn niemals nackt im Keller einsperren wie mich... niemand soll ihm wehtun.“

„Du wolltest ihm gerade auf die schrecklichste Weise wehtun,“ sprach Leopold, nun ganz besonders eindringlich und auf einmal wirkte er stark und selbstsicher. „Warum nur, Konstantin? Warum tust du so etwas? Er ist doch noch ein Kind. Es ist nicht dasselbe wie das, was damals zwischen uns war.“

„Das zwischen uns?...“ Konstantins Stimme klang wie aus weiter Ferne. „Du hast dich danach von mir abgewandt.“

„Weil mir, als ich aus meinem Rausch erwachte bewusst wurde, dass ich diesen Weg nicht weitergehen wollte.“

„Hat es dir denn gar nichts bedeutet? “

„Ich sehnte mich damals einfach nach Nähe, doch mir war von Anbeginn klar, dass es eine einmalige Sache bleiben würde. Es tut mir leid Konstantin, aber nein, es hat mir bestimmt nicht dasselbe bedeutet, wie dir vielleicht. Doch ich war erwachsen, ich konnte für mich selbst entscheiden.

Martin jedoch, ist noch ein unschuldiges Kind, du darfst ihm so etwas auf keinen Fall antun! Dann nimm vorher lieber nochmals mich. Ich kann damit umgehen.“

„Aber du willst es nicht. Du bist nicht“... Konstantin seufzte „nicht... wie ich. Ich bin verloren. Ich bin verdammt, für ewig. Gott wird mich strafen.“

„Wir finden irgendeinen Weg, Konstantin. Gottes Liebe ist gross.“

Der Angesprochene lachte bitter auf. Auf einmal machte es den Eindruck, als erkenne er nun erst die Tragweite seines Handelns. „Oh nein Leo. Es gibt für mein Problem keine Lösung...“ 

Konstantin trat fast unmerklich etwas näher an den Rand der Klippe heran. Unter ihm rauschte unsichtbar das nächtliche Meer. Mit unendlicher Macht zog es sein Sein hinunter in diese samtene Dunkelheit. Sie erschien ihm nicht unheimlich, nicht bedrohlich.

Nein, sie vermittelte ihm ein Gefühl der Geborgenheit, der ewigen Ruhe...

Es war, als riefe sie nach ihm. Sein ganzes Leben zog nochmals blitzschnell an ihm vorbei, wie ein Film, der sich nicht stoppen liess. Er sah sich selbst, wie er versucht hatte, Martin zu missbrauchen. Sein ganze Schuld stand ihm plötzlich klar vor Augen.

Dann war er wieder selbst der kleine Junge, dessen Vater ihm Unaussprechliches angetan hatte, damals… nackt, im kalten Keller...

Tränen liefen Konstantin über die Wangen. Es gab keine irdische Lösung für jemanden wie ihn, der anderen dasselbe Leid zufügen wollte, welches man ihm zugefügt hatte- nicht in dieser Zeit... Er würde immer wieder von seinen Trieben überwältigt werden und wenn man ihn vor ein irdisches Gericht stellte, würde er zweifellos hingerichtet werde. Aber, er wollte nicht, dass Menschen über ihn richteten...

Er trat noch etwas näher an den Abgrund heran. „Vergebt mir!“ sprach er, dann gab er dem Sog des Abgrundes nach.

„Nein!“ hörte er noch in weiter Ferne die Stimmen der andern, als...er fiel.

 

Zutiefst entsetzt über das, was eben geschah, liefen Leopold, Martin und ich zu dem Abgrund, in den sich Konstantin freiwillig gestürzt hatte. Meine Eingeweide rebellierten, wenn ich mir vorstellte, dass dort unten sein zerschellter Leib lag. Der Schein der einzigen Fackel, die wir bei uns trugen, drang nicht in die dunklen Tiefen vor. Wir beteten auch hier wie es üblich war: „Herr, gib ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm. Herr, lass ihn ruhen in Frieden.“

Aber auf einmal erklang hinter uns, die uns mittlerweile nur allzu bekannte Stimme, des Abtes Lucius.

„Glaubt ihr überhaupt an das, was ihr da betet, Brüder?“ fragte er. „Wisst ihr denn nicht, was Mutter Kirche über Selbstmörder sagt und über... sexuell Verirrte?“

Sein Blick durchbohrte Leopold, der unter der offensichtlichen Beschuldigung zusammenzuckte. 

Das wilde Tier des Zorns wand sich erneut in meinem Inneren. Was für eine Anmassung des schwarzen Mönchs, der doch hinter all den schrecklichen Dingen steckte!

„Ich habe alles mitangehört“, fuhr Lucius in arrogantem Tone fort und baute sich vor Leopold auf. „Du weißt, welche Strafe auf gleichgeschlechtliche Liebe steht: Der Tod!“

Diese Worte hallen wie ein Peitschenknall in der abendlichen Stille wider. Doch diesmal würde ich nicht mehr schweigen! Es war endlich an der Zeit, dem allen ein Ende zu setzen!

„Lass dich nicht von ihm einschüchtern, Leopold!“ sprach ich und drückte beruhigend dessen Hand. „Schau ihn genau an und du wirst sehen, dass sein Wesen schwarz ist, wie die Nacht. In deinem Wesen aber, habe ich Schönheit und Licht gesehen. Er hat keine Macht über dich.“

Leo blickte dem Abt in die kalten Augen und sah die tiefen Abgründe dahinter. Seine Schultern strafften sich und er richtete sich aus seiner Demutsstellung, zur vollen Grösse auf.

Martin trat ebenfalls neben ihn und hielt seine andere Hand fest. In seinen Augen lagen dabei ein Leuchten und eine Kraft, die nach dem schrecklichen Erlebnis mit Konstantin erstaunlich war.

Der Abt wich unmerklich einen Schritt zurück. Doch es war nur ein kurzer Moment der Unsicherheit, dann meinte er spöttisch: „Ihr wollt also gegen mich meutern, ein trauriger Haufen wie ihr? Lasst mich mal sehen: Ein junger Spund von 13 Jahren, der noch keinerlei Lebenserfahrung hat, ein Homosexueller, der sich wegen jeder Kleinigkeit in die Hosen macht und keinerlei Rückgrat besitzt und... ein Möchtegern- Hellseher, der sowieso schon lange auf den Scheiterhaufen gehören würde...“

„Ihr habt noch etwas vergessen, werter Vater, “ erklang hinter uns auf einmal einen dröhnende Stimme. „Den jähzornigen Schläger und Zölibats- Brecher!“

Es war Michael!

Voller Freude blickten wir ihm entgegen. Er gesellte sich zu uns und nahm meine Hand.

„Michael, wie bist du rausgekommen?“ fragte ich.

„Tja, das war eine ganz seltsame Sache“, erwiderte dieser. „Ich fand die Türe auf einmal offen. Keine Ahnung, wie das kam. Bevor ich jedoch länger darüber nachdenken konnte, meinte er entschlossen: „Aber wir haben hier Wichtigeres zu tun. Habt ihr diesem „Teufel“ endlich die Stirn geboten? Es wurde ja auch Zeit! Das will ich keinesfalls verpassen.“

Erneut flackerte Unsicherheit in den Augen von Lucius auf. Mit Genugtuung sah ich die grauen Schwaden der Furcht, die in seiner Aura aufgetaucht waren. Ich war stolz auf meine Mitbrüder. Die Farbe ihrer Aura leuchtete in den wunderbarsten Spektralfarben, vorwiegend aber, in sanften Blau- und Rosatönen. Selbst bei Leopold erkannte ich kaum mehr die stumpfen Farben der Furcht und Unsicherheit. Seine Ausstrahlung war nun gar durchwirkt, von zarten filigranen Linien, die leuchtende Formen bildeten. Ich begriff, dass er drauf und dran war das allerhöchste Begreifen der Göttlichkeit zu erlangen.

Martins Aura erinnerte mich auf einmal an eine Lotusblüte, die gen Himmel strebte. Michaels Aura war in ihren Farben am kräftigsten, sie war ein Farbenspiel, hauptsächlich von Blau, Rosa und Grün.

All diese Männer waren auf wundersame Weise erstarkt und mir wurde klar, dass jeder von ihnen ein Teil eines grossen Ganzen war. Auch mich schüchterte Lucius nicht mehr ein, das war bei unserer ersten Begegnung ganz anders gewesen. 

Wer war dieser schwarze Mönch? War er wirklich ein Teufel, wie es Michael sagte oder etwas anderes? Jedenfalls besass er eine enorme Selbstbeherrschung, denn er sprach ganz gelassen: „Soso, da haben wir also den vierten im Bunde. Du erstaunst mich Michael, gerade einer wie du, hat keinen Grund, den Mund so voll zu nehmen. Du bist nicht nur ein Schläger und Zölibats- Brecher, sondern auch noch ein Mörder. Du hast schliesslich Thomas ermordet.“

„Ich habe ihn nicht ermordet, Lucius, und das weißt du selbst am besten. Ich glaube eher, du hast ihn auf mich angesetzt. Leider hast du versagt.“

„Ich versagt?“ Lucius lachte laut und hämisch auf. „Das sehe ich etwas anders. Ihr wart doch alle wie Marionetten, die genau das taten, was ich wollte.“

Seine Fassade beginnt langsam zu bröckeln, dachte ich bei mir. Sonst würde er sich nicht selbst auf diese Weise entlarven.

So sprach ich: „Ich glaube, dass du da einem grossen Irrtum erlegen bist, Lucius. Du hast keineswegs das erreicht, was du wolltest, auch wenn es vielleicht so erschien. Wir vier sind das beste Beispiel dafür. Du hast auch bei Ignarius nicht wirklich das bewirkt, was du angestrebt hast, vielmehr hast du ihm sogar noch Hilfestellung gegeben, damit er wieder wahrlich zu Gott zurückfand.“

„Was meinst du damit?“ fragte der Schwarzgewandete erstaunt.

„Nun... Ignarius hat noch vor seinem Tod, wahrhaftig erkannt, worum es im Leben geht. Er hat lange gebraucht, aber es geschah. Nicht mal bei Konstantin hast du dein gewünschtes Ziel erreicht, denn er hat sich schlussendlich geopfert, um niemandem mehr Schaden zuzufügen. “

„Er hat sich in den Tod gestürzt, darauf kommt es doch an. Er wird dafür ganz klar in der Hölle schmoren.“

„Da wäre ich nicht so sicher, “ erwiderte ich angriffslustig. „Wenn du alles gehört hast, müsstest du doch eigentlich wissen, dass er um Vergebung bat, bevor er sprang. Darum glaube ich, dass er noch eine Chance kriegt, auch wenn er etwas Verabscheuungswürdiges tun wollte, dass wir übrigens verhinderten.

Das muss dich überaus schmerzen, Lucius.“

Der Abt biss sich auf die Lippen, ich merkte, wie er um Selbstbeherrschung rang, als er hervorstiess: „Ihr haltet euch für etwas Besonderes, dabei seid ihr alles wertlose Versager!

Leopold wird sein ganzes Leben lang Angst haben, Michaels Jähzorn wird immer wieder hervorbrechen, Martin wird als Unschuldslamm immer das Opfer anderer sein und du...“ er spukte das Wort förmlich aus, „wirst für deine sogenannte Gabe, stets mehr gefürchtet als geschätzt werden. Erinnerst du dich, dass sich selbst deine Eltern einst von dir abwandten? Du wirst immer ein Gejagter, ein Aussenseiter bleiben, Antonio. Deine Hellsicht ist mehr eine Last als eine Gabe.“

„Das reicht jetzt aber“, wollte sich Michael zu Wort melden. Doch ich hielt ihn mit einer Handbewegung dazu an, zu schweigen. Ich wusste, was ich zu antworten hatte, denn langsam begriff ich immer mehr.

„Was du da sagst, Lucius, war einst auch meine Wahrheit. Nun aber nicht mehr. Heute sehe ich meine Hellsichtigkeit als eine wunderbare Gabe Gottes an. Auch die Heilige Schrift spricht im 1.Korintherbrief von den vielfältigen Gaben, die „Einem Geiste“ entspringen. (1.Kor.12, 1-11) Ich glaube, es geht darum, wie man mit solchen Gaben umgeht. Man muss sich ihrer würdig erweisen. Ich habe beschlossen, meine Hellsicht einzusetzen, um meinen Mitmenschen zu helfen- sie besser zu verstehen. Es stimmt, es gibt auch in meinem Wesen Furcht und Unsicherheit, doch durch meine guten Absichten und meine Liebe zu allem Lebenden, kann ich diese neutralisieren.

Dasselbe gilt auch für Leopold. Ja, er mag viel Furcht in seinem Leben haben, doch auch er besitzt wundervolle Gaben: Die Gabe der Erkenntnis, der Sensibilität, der Medialität und der Uneigennützigkeit. Hättest du wirklich alles mitbekommen, was in der letzten Stunde hier geschehen ist, dann hättest du kapiert, dass er es eigentlich war, der Konstantin von seiner schändlichen Tat abhielt. Er ist der Held in dieser Episode.

Was Martin betrifft: Er ist keineswegs nur ein Opfer anderer, vielmehr ist er ein Lehrer für uns alle. Er weiss mehr über das was wirklich zählt, als alle Brüder dieses Klosters zusammen.

Seine Reinheit war es, die du nicht ertragen konntest, darum wolltest du sie beschmutzt sehen. Doch jemand wie Martin wird niemals ganz gebrochen werden. Sein Geist wird immer stark sein. Egal, was seinem Körper widerfährt.

Michael für seinen Teil, mag einen ungehaltenen Charakter haben, aber seine Gaben sind Stärke und Ehrlichkeit. Er war ehrlich zu sich selbst, stets ehrlich zu den anderen Menschen. Auch in seinem Zorn, blieb er ehrlich. Ausserdem besitzt er grossen Mut! Das sind seine Gaben.

Wir alle sind „Ein Leib“ der Leib kann nicht sein ohne jedes Glied und jedes Glied dient einem anderen Zweck und bildet dennoch, zusammen mit den anderen, den Einen Leib. (1.Kor.12,12-31) Wir alle haben in uns die verschiedensten Spektren von Gefühlen. Ich erkenne dich nun, Lucius, ich erkenne deine Funktion!“

„Was meinst du damit?“ fragte Michael.

„Weißt du das nicht, mein Freund?“ fragte ich ihn. „Dabei hast du mich doch erst so wirklich darauf gebracht, als du mir sagtest:

„Wir alle sollten oder sollen Opfer unserer eigenen Schwächen werden.  

„Ich verstehe“, mischte sich Leopold, mit vor Erkenntnis strahlenden Augen, ins Gespräch. „Lucius steht für die tiefsten Abgründe unseres Wesens.“

Michaels Augen blitzen in einer weiteren, plötzlichen Erleuchtung auf. „Genau! Er ist... kein Teufel! Er ist das Werkzeug, das der Teufel am liebsten gebraucht, natürlich!“

 

Lucius sagte nichts. Auf einmal stand blanke Furcht in seinen Augen. Er wich zurück und sein Blick hastete umher.

„Lasst ihn nicht weg!“ rief Martins Stimme. „Umringt ihn!“ Die plötzliche Tatkraft dieses sonst so stillen Jungen, verblüffte mich und ich tat, ebenso wie die anderen das, wozu er mich aufforderte.

Wir umringten den schwarzen Abt und hielten uns alle an den Händen. Es gab für ihn keinen Ausweg mehr. Auf einmal sah ich, wie sich im Feinstofflichen eine goldene Lichtschnur bildete, die uns alle verband. Und dann kamen sie: Engel! Herrlicher und schöner, als ich es jemals gesehen hatte! Sie verstärkten noch dieses Band.

Lucius schien sie ebenfalls wahrzunehmen und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. 

„Einer ist alle und alle sind Einer!“ rief ich einer Eingebung folgend. Und meine Freund stimmten ein: „Einer ist alle und alle sind Einer!“ Immer wieder erklangen diese Worte, erhoben sich wie Perlenschnüre in die Luft und schienen mit ihrem Klang, den ganzen Weltenraum auszufüllen! „Einer ist alle und alle sind einer, einer ist alle und alle sind einer...!“ 

und...der schwarze Abt löste sich im Klang dieser Worte ganz einfach in Luft auf...!

********** 

Fassungslos standen die vier Freunde da. Sie konnten immer noch nicht recht begreifen, was sich da eben zugetragen hatte. Lucius war wahrhaftig einfach verschwunden!

„Wo er wohl hingegangen ist?“ fragte Michael.

„Vermutlich dorthin, wo er wieder neue Nahrung findet“, sprach Antonio.

„Er wird immer weiter existieren, solange er irgendwo Menschen gibt, deren Abgründe er ausnutzen kann“, sprach Martin leise.

„Ja, da hast du wohl recht, “ erwiderte Antonio. „Dennoch haben wir einen grossen Sieg errungen. Weil wir lernten, unsere Schatten- aber auch unsere Lichtanteile zu erkennen und somit über Lucius zu triumphierten.“

„Dann war er es also, der uns all diese schlimmen Dinge, noch schlimmer erleben liess?“ fragte Leopold. 

„Ja.“

„Er hätte es beinahe geschafft, jedenfalls bei mir. Ich war nahe daran, denn Verstand aus lauter Furcht zu verlieren, bis ich erkannte, dass das was ich sah, keine Einbildung war und das ich meinen Eingebungen vertrauen darf. Dies hat mir geholfen, mich wieder mehr zu lieben, an mich zu glauben. Ich konnte mich wieder mit Gott verbinden und er hat mir aus meiner Not geholfen. Irgendwie habe ich dadurch zu einer ganz neuen Klarheit gefunden. Jede Krise hat am Ende doch immer etwas Gutes. Man muss es nur wiederfinden.“

„Auch ich bin viel freier geworden“, sagte Michael nachdenklich. „Ich erkannte, woher meine Wut, und mein Zorn kamen. So konnte ich besser damit umgehen. Es gab keine wirkliche Liebe in meinem Leben vorher, doch nun spüre ich, auch durch Theresas Liebe, wieder ganz deutlich und tief in mir, die Liebe Gottes! Ich weiss, dass ich das Richtige tue, weil es wahrhaftig ist. Wir haben auch dir viel zu verdanken, Antonio. Dein Wissen und deine Unterstützung haben uns geholfen, über Lucius oder das was er verkörperte, zu triumphieren.“

„Oh nein, mein Freund!“ antwortete Antonio. „Das habt ihr alles selbst geschafft.“ „Aber du hast uns den Weg gewiesen und uns in unserer Not ernst genommen“, meinte Leopold.

„Eure Seele hat euch den Weg gewiesen. Sie ist das Geschenk Gottes an alle Lebewesen. Auch ich durfte sehr viel von euch lernen. Denn ich war drauf und dran, ebenfalls ein Opfer von Lucius zu werden. Deshalb nämlich, weil ich in meiner Hellsichtigkeit etwas Negatives sah. Nur dadurch, dass ich ihren Wert in Gottes Augen erkannte, war ich imstande, den schwarzen Abt zusammen mit euch zu vertreiben.“

„Nur traurig, dass nicht all unsere Brüder ebenfalls bei uns sind“, sprach Martin bedrückt. Er trat an den Rande, der nun völlig in Schwarz gehüllten Klippe und schaute hinunter. Auf einmal begannen seine Schultern zu zucken und... das erst Mal, seit Antonio ihn kannte, weinte er vollkommen hemmungslos. Sie traten alle zu ihm und legten die Arme um ihn.

Antonios Augen brannten ebenfalls und schliesslich weinte auch er. Die andern taten es ihnen nach.

Die Tränen halfen die Spannung zu lösen, unter der sie die letzten Wochen alle gestanden hatten.

Am Himmel trat währenddessen ein wunderschöner, leuchtender Vollmond hinter den Wolken hervor. Er warf einen sanften, silbernen Schein auf die Umgebung. Die Gischt glänzte wie tausend Edelsteine. Ein ganz neues Leben würde nun beginnen...

 

Prolog

 

20. August anno 1330

Antonio hielt im Schreiben inne. Er wusste nicht, wie er seinen Bericht schliessen sollte. Nachdenklich blickte er hinaus ins goldene Abendlicht. Sein Geist war weit in der Vergangenheit entrückt. Er durchlebte alles nochmals.

Er und seine Mitbrüder fanden schliesslich Unterschlupf in einem anderen Kloster. Sie wollten nicht mehr auf der Insel bleiben, die so viel Elend gesehen hatte. Sie alle brauchten Zeit, das zu verarbeiten was sich zugetragen hatte, besonders Martin. Immerhin war er beinahe missbraucht worden.

Michael zog mit seiner geliebten Theresa aufs Festland und die beiden bekamen noch zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Durch das neu empfundene Glück und die Hingabe an seine Familie, konnte er seinen Jähzorn immer mehr auflösen.

Leopold kehrte nach einer Weile auf die kleine Insel zurück. Er wurde dort sogar selbst Abt und scharte eine Handvoll Mönche um sich, welche nicht so viele, innere Lasten mit sich herumschleppten, wie ihre Vorgänger.

Als Antonio von ihm erfuhr, dass der Leichnam von Mauritius an der Küste gefunden worden war, erstaunte ihn das nicht sonderlich. Man hatte dem alten Abt auf brutalste Weise den Schädel eingeschlagen. Das war wohl Lucius Werk gewesen.

Leopold vertrieb noch die letzten Überbleibsel des Schwarzen Mönchs aus dem Kloster, indem er ein heiliges Reinigungsritual vollzog. Danach veränderte sich die kleine Abtei sehr zum Positiven. Antonio fühlte das, als er sie einige Jahre darauf, nochmals besuchte. Er hielt zu all seinen Brüdern, die nun zu seinen engsten Freunden geworden waren, weiterhin Kontakt.

Er und Martin traten zusammen in eine grössere Abtei, auf dem dalmatischen Festland, ein. Dort blieben sie zusammen, bis Martin mit 33 Jahren starb.

 

Traurig schaute Antonio hinauf in die Wolken, als er daran dachte. Und dann schrieb er die letzten Sätze auf das Papier:

„Ich sehe Martin noch heute in allem, was mir begegnet. Sogar die Wolken scheinen sein Gesicht zu tragen. Dieser Junge war für mich wie ein wahrer Bruder. Niemals wieder wird es für mich einen Menschen wie ihn geben.

Er war ein Bote Gottes, davon bin ich überzeugt. Er zeigte mir, wie wir alle werden sollten.

Wir alle sitzen im gleichen Boot. 

Einer ist alle und alle sind Einer! Das gilt auch für all die Aspekte unseres Wesens. Mit ihnen müssen wir uns versöhnen, sie annehmen und würdigen. So können wir uns mit Gott und den Menschen erst wahrlich versöhnen. Durch diese Versöhnung, durch das Erkennen unserer Schwächen, aber auch Stärken, werden wir erst zu wahren Kindern Gottes. Keine Gesetze dieser Welt können über diese Tatsachen hinwegtäuschen. 

Die Wahrheit liegt „in“ uns. Gott hat sie in uns verborgen, weil wir seine geliebten Kinder sind. So ist mit der Aussage: Alle sind Einer, auch gemeint, dass wir ein Teil des Grossen Ganzen sind, ein Teil von Gott.

Solange wir uns diese Gotteskindschaft vergegenwärtigen, daran glauben, obwohl wir noch so viele Fehler haben, so viele Verletzungen mit uns herumtragen…, so wird es immer Hoffnung für uns geben!

 

Gott zum Gruss!

 

Bruder

Antonio De Luca